Nach knapp neun Tagen und über 4000 gefahrenen Kilometern hat der Schweizer Robin Gemperle beim Transcontinental Race 2024 das Ziel in Istanbul als Erster erreicht. Der 28-jährige Aargauer liess den österreichischen Favoriten und langjährigen Ultra-Dominator Christoph Strasser deutlich hinter sich.
Nachdem sowohl Fussball-EM wie auch Tour de France jüngst Millionen von Menschen vor den Bildschirm gelockt haben und mit den Olympischen Spielen ein nächstes Fernseh-Grossereignis die Menschen in ihren Bann zieht, fand unbemerkt von der medialen Berichterstattung mit dem Transcontinental Race (TCR) der europäische Höhepunkt der Bikepacking-Szene statt. Der weltweite Beachtungsgrad entspricht so ziemlich umgekehrt proportional den sportlichen Leistungen, die beim TCR gefordert sind und die Fans als «Dotwatcher» vor den Bildschirm bannten.
Doch der Reihe nach. Das Transcontinental Race wird erst seit 2013 organisiert, besitzt aber in der Bikepacking-Szene bereits Kultstatus. Es ist das längste Ultradistanz-Radrennen in Europa. Die Spitzenfahrer sind je nach Distanz – die jedes Mal variiert und zwischen 3200 und 4000 Kilometern liegt – rund sieben bis neun Tage unterwegs.
Beim Transcontinental Race gilt das Selbstversorgerprinzip. Was bedeutet: Keine Begleitautos und Hilfe von aussen, die Teilnehmer sind unbegleitet und müssen sich auf der Strecke selbst versorgen. Bis auf mehrere Kontrollpunkte und einzelne Streckenabschnitte, die von allen passiert werden müssen, muss auch die Streckenplanung selbst organisiert werden und es gilt abzuwägen, welche Route die schnellste ist (Schotter oder Strasse, direkt oder Umweg, mehr oder weniger Höhenmeter?).
Neben der physischen Leistungsfähigkeit entscheidend sind Faktoren wie Eigenständigkeit, Logistik, Navigation, Durchhaltewillen und Urteilsvermögen. Während die Stärksten das gedacht Mögliche bei jeder Austragung neu definieren, wollen viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer einfach innerhalb des Zeitlimits das Ziel erreichen. Nicht umsonst lautet das Motto des Gründers Mike Hall: «Nichts, was etwas wert ist, ist jemals einfach.»
Von Roubaix in die Türkei
Das diesjährige Transcontinental Race führte vom Start in Roubaix bis nach Istanbul (rund 4000 km). Es wurde am 21. Juli abends gestartet, und knapp neun Tage später erreichte Robin Gemperle das Ziel als Erster und mehrere Stunden vor seinem grossen Kontrahenten Christoph Strasser. Der sechsfache Race-Across-America-Sieger Christoph Strasser konnte die letzten beiden Austragungen des TCR für sich entscheiden konnte (ein grosses Interview mit Christoph Strasser lesen Sie hier). Robin Gemperle als sein grösster Herausforderer fährt zwar erst seit zwei Jahren bei Bikepacking-Rennen mit, aber nach seinem letztjährigen zweiten Platz wollte er das TCR bei seiner dritten Teilnahme unbedingt gewinnen (ein Interview mit Robin Gemperle nach seinem zweiten Rang 2023 lesen Sie hier).
Beim TCR fahren deutlich mehr Männer als Frauen mit. Die Männer schaffen durchschnittlich gegen 500 km pro Tag, aber auch die schnellsten Frauen leisten zwischen 400-450 km pro Tag. Insgesamt stehen beim TCR rund 250 Sportlerinnen und Sportler an der Startlinie.
Unterschiedliches Schlafverhalten
Bezüglich Fahr- und Schlafverhalten gibt es unterschiedliche Taktiken. Meist starten die Schnellsten mit einem Nonstop-Fahrtag, bevor sie das erste Mal eine Schlafpause von rund 3-4 Stunden einlegen. Robin Gemperle hat so mit einer schlauen Streckenwahl in den ersten 23 Stunden die unfassbare Distanz von 752 Kilometern zurückgelegt, was einem Durchschnitt von 32 km/h entspricht – und dies mit Gepäck! Gemperles Stillstandzeit in den ersten 23 Stunden betrug gerade mal 8 Minuten! Und anders als nach einem Alpenbrevet können sich die TCR-Fahrer danach nicht zur Ruhe legen, sondern haben danach noch über 3000 km vor sich…
Ab dem zweiten Tag wird in der Regel rund 18-20 Stunden durchgefahren und 4-5 Stunden geschlafen. Auch so schaffen die Spitzenfahrer rund 500 km pro Tag. Bei dieser «langen» Schlafdauer bevorzugen die meisten Fahrer ein Hotel, welches wenige Stunden vor der Pause fliegend auf dem Rad gebucht wird und wo sie alle elektronischen Geräte aufladen können. Gegen den Schluss des Rennens verkürzen viele Spitzenfahrer den Schlafrhythmus und schlafen nur noch 2-3 Stunden. Für diese kurze Zeit ist das Organisieren eines Hotels zu umständlich und sie suchen sich spontan irgendwo am Strassenrand ein ruhiges Plätzchen.
Verpflegung wird unterwegs bei Tankstellen, Imbissstellen oder Lebensmittelgeschäften gekauft. In abgelegenen Gegenden muss entsprechend viel mitgetragen werden (vor allem Flüssigkeit). Für die Nacht ist genügend Licht entscheidend. Die Grundsatzfrage lautet: Powerbank oder Dynamo, um Handy und Navi aufzuladen? Unabhängig, dafür mit mehr Widerstand, ist man mit Dynamo unterwegs. Steckdosenpflichtig, aber leichter am Rollen, mit Akku. Das Leben erschweren können den Fahrern zudem tierische Begleiter, vor allem freilaufende Hunde, die häufig in Südosteuropa anzutreffen sind und leider nur selten Streicheleinheiten suchen.
Unterschiedliche Routenwahl
Beim diesjährigen TCR erstaunte, wie unterschiedlich die Spitzenfahrer die Route auswählten. Während Robin Gemperle zu Beginn eine nördliche und schnelle – weil flache – Startroute über Belgien wählte, suchten die meisten ihr Heil über Luxemburg oder noch weiter südlich. Der erste fixe Streckenabschnitt in Slowenien, den alle passieren mussten, erreichten die Spitzenfahrer nach knapp drei Tagen. In den letzten Tagen in Südosteuropa wählte Gemperle häufig Abkürzungen über manchmal extrem steile Schotterpisten mit Schiebepassagen, während seine Verfolger eher weitere Wege machten, dort dafür schneller fahren konnten.
Zum Schluss konnte sich Robin Gemperle deutlich durchsetzen, sein Vorsprung gegenüber Strasser betrug knapp fünf Stunden. Der 41-jährige Steirer hatte allerdings viel Pech mit zahlreichen Platten und wurde überdies von einem Hund in den Knöchel gebissen. Dritter mit über 13 Stunden Rückstand wurde Tim de Witte, Vierter Abdullah Zeinab und Fünfter mit André Bachmann ein weiterer Schweizer.
Interessant: Gemperle als Sieger fuhr schlussendlich 4052 km weit, der zweitplatzierte Strasser mit 4209 km über 150 km weiter und der viertplatzierte Zeinab war gar 4334 km unterwegs.
Als erste Frau erreichte Jana Kesenheimer nach 11 Tagen drei Stunden und 57 Minuten Istanbul. Die Österreicherin belegte damit den hervorragenden 13. Gesamtrang.
Da alle Fahrer einen Tracker mittragen und nummeriert sind, sind auf https://www.lostdot.cc/race-brand/transcontinental alle Angaben wie exakte Position sowie Analyse-Daten wie Gesamtfahrzeit oder Ruhezeit, Routenwahl und Durchschnittsgeschwindigkeit aufgeführt.