Tierisches Kolostrum soll die Abwehrkräfte zu stärken. Was ist bewiesen, was bloss Vermutung?
Die während der ersten Stunden nach einer Geburt von der Mutter produzierte Milch enthält besonders viele Wirkstoffe. Das Neugeborene erhält damit einen prallen Rucksack zur Bewältigung der ersten Zeit in der fremden Welt. Von Natur aus wird diese erste Milch bei Menschen und Säugetieren Kolostrum genannt (im Falle von Kühen auch Biestmilch) und ist für den eigenen Nachwuchs gedacht. Doch was geschieht, wenn erwachsene Menschen Kolostrum einnehmen?
Kolostrum immer anders
Die bevorstehende Geburt verursacht die Bildung einer speziellen ersten Muttermilch mit einer ganz anderen Zusammensetzung als die spätere Milch. Diese Zusammensetzung variiert in Abhängigkeit von Tierart, Rasse, Zeitpunkt des Melkens nach der Geburt sowie von Haltung, Fütterung und Gesundheitszustand der Tiere (1). Auch die Verarbeitung des Kolostrums beeinflusst dessen Zusammensetzung (2).
Somit ist «Kolostrum» nicht immer gleich «Kolostrum», selbst wenn es von der gleichen Tierart stammt. Mit dem Kolostrum erhält das Neugeborene die üblichen Nährstoffe wie Eiweiss, Kohlenhydrate, Fett, Mineralstoffe oder Vitamine, aber auch diverse Stoffe zu seinem Schutze und besseren Anfangswachstum. Diese Stoffe stützen das Immunsystem, fördern das Wachstum oder senken Entzündungen1. Sie wirken im Neugeborenen entweder schon im Darm oder nach Aufnahme in den Blutkreislauf. Letzteres ist nur möglich, weil die Darmwand in den ersten Stunden nach der Geburt für die eher grossen Wirkstoffe stark durchlässig ist. Diese erhöhte Durchlässigkeit verschwindet allerdings innerhalb von Tagen. Auch gut zu wissen: Kolostrum wirkt nicht bei allen Säugetieren am gleichen Ort. Bei Rindern zielt es eher auf die Stützung des Immunsystems, während beim Menschen die erste Milch hauptsächlich den Magen-Darm-Bereich schützt (z.B. gegen Durchfall) (2).
Kolostrum für Erwachsene
Die Wirkstoffe des Kolostrums werden bei erwachsenen Menschen zu einem guten Teil verdaut. Da dies aber nicht zu 100% passiert, lässt sich eine Rest-Wirkung nicht ganz ausschliessen. Dies öffnet die Türe für Spekulationen bezüglich Wirkungsweise und entsprechend gibt es diverse Kolostrumpräparate auf dem Markt.
Im Sport erhofft man sich von Kolostrum eine bessere Immunabwehr, Leistung, Erholung und Körperzusammensetzung (3). Doch was sagen die Fakten? In rund zwei Dutzend Studien wurde die Wirkung von Kolostrum bei unterschiedlichen sportlichen Belastungen untersucht, oft im Vergleich zu Milch oder Molke. Die Ergebnisse sind durchzogen, was wenig erstaunt, da Kolostrum wie bereits erwähnt nicht immer gleich zusammengesetzt ist und daher in den Studien mit Sicherheit immer unterschiedliches Kolostrum zum Einsatz kam.
Eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit und Erholung oder eine vorteilhafte Veränderung der Körpermasse darf man nicht erwarten. Dafür gibt es zu wenige Hinweise. Etwas besser sieht es bezüglich Stützung des Immunsystems aus: Leicht weniger Erkältungen nach einer anstrengenden Ausdauerbelastung sind zwar möglich (4), von einer klaren Studienlage sind wir aber noch entfernt. Bezüglich Schutz des Darmes, dem eigentlichen Hauptwirkungsort von Kolostrum beim Menschen, ist die Wirkung «unentschieden». In einer Studie gab es nach acht Wochen mit täglich 60 Gramm Kolostrum eine erhöhte Darmdurchlässigkeit (nach einer Ruhephase gemessen) (5), in einer anderen Studie fiel nach zwei Wochen mit täglich 10 Gramm Kolostrum die oft beobachtete, erhöhte Darmdurchlässigkeit nach sportlicher Belastung viel geringer aus (6). Die Studien sind dermassen unterschiedlich, dass keine klare Aussage getroffen werden kann.
Kaum Nebenwirkungen
Die übliche Dosierung für eine Kur beträgt täglich 10-60 Gramm Kolostrum während 2-8 Wochen. Nebenwirkungen sind nur bei Milch-Unverträglichkeiten zu erwarten. Eine solche Kur ist nicht ganz billig. Mit der durchzogenen Faktenlage ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis daher nicht gerade toll. Es gibt sicherlich bessere Massnahmen und andere Prioritäten, die sportliche Leistung und/oder das Immunsystem zu verbessern. Die wichtigste: genügend und abwechslungsreiches Essen und Trinken gemäss der Lebensmittelpyramide für Sportler (www.ssns.ch). Das steht speziell für Sportler an erster Stelle und ist erfolgsversprechender als der Einsatz von Kolostrum.
Ernährungs-Experte Dr. Paolo Colombani arbeitet als wissenschaftlicher Berater in seiner eigenen Firma.
Quellen:
(1) Bernabucci U et al. Cell Mol Biol 2013; 59:67–83.
(2) Hurley WL, Theil PK. Nutrients 2011; 3:442–74.
(3) Shing CM et al. Sports Med 2009; 39:1033–54.
(4) Davison G. Med Sport Sci 2012; 59:62–9.
(5) Buckley JD et al. Nutrients 2009; 1:224–34.
(6) Marchbank T et al. Am J Physiol Gastrointest Liver Physiol 2011; 300:G477-84.