Menschen, die gelegentlich laufen, gibt es viele. Solche, die mehrmals pro Woche rennen, sind ebenfalls nicht rar in der Schweiz. Und dann gibt es noch jene, die jeden Tag laufen, JEDEN – Streak-Runner.
Eine seit Jahrtausenden vor allem in Asien bekannte, kontemplative Praxis beinhaltet immer wiederkehrende Übungen, die durch die hohe Anzahl ihrer Verrichtungen zu innerer Grösse, geistiger Freiheit und absoluter Gelassenheit führen sollen. Diese Übungen können etwa tägliche Meditationen, ein täglich ausgeführtes Teeritual oder ein tägliches körperliches Training sein.
Ob sich die Pioniere des Streak-Running jemals Gedanken über Zen, Yoga und den dazugehörenden körperlichen wie geistigen Übungen gemacht haben, sei dahingestellt. Tatsache ist jedoch, dass nahezu alle Streak-Runner, ganz egal wie lange ihre Lauf-Serie andauerte oder andauert, von sich behaupten, sie hätten sich deutlich verändert – und dies nicht nur physisch, sondern auch mental.
Mit anderen Worten: Wer täglich läuft, ohne Unterbrechung und ohne Ausnahme, wer täglich mindestens eine Meile, also 1,6 km rennend (gehen verboten!) unter die Füsse nimmt, wird eine Veränderung in seinem Wesen und sowieso in seinem Körper spüren.
Wer über Wochen, Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg dem immer wiederkehrenden Laufrhythmus frönt, wer jeden Tag aufs Neue Laufen als etwas derart Natürliches und Selbstverständliches wie Atmen, Essen oder den Gang zur Toilette begreift, der hat seinen Weg gefunden. Im wahrsten Sinne der Worte.
Extrem oder vernünftig?
Streak-Runner sind die Exoten unter den Läufern. Ihre Berufung ist so lapidar wie paradox: Nicht die Länge der Laufstrecke, nicht die Höhenmeter oder widrigen Terrains machen sie zu etwas Besonderem in der Läufergemeinde, sondern schlicht das Kontinuierliche: Jeden Tag Laufen, ohne Ausnahmen, ohne Ausrede, ohne Wenn und Aber, immer. Selten passt der mittlerweile allzu häufig genutzte Spruch «der Weg ist das Ziel» besser als bei einem Streak-Runner.
Dabei huldigen Streak-Runner per Definition eigentlich keinem Extremismus. Denn ihre Serien können unterschiedlich lang andauern. So sind etwa die Wochen und Monate nach dem Jahreswechsel beliebt-berüchtigte Streak-Zeiträume. Wenn alles besser oder zumindest anders werden soll, setzen sich nachweislich viele Menschen neue Ziele im Leben. Wenn andere mit dem Rauchen oder Trinken aufhören (wollen), stecken sich Streak-Runner ihre ganz persönlichen Neujahrsziele. Wie zum Beispiel drei Wochen, einen, zwei oder gar drei Monate lang jeden Tag laufen.
Jeden Tag. Und wie bereits geschrieben: Mindestens 1,6 Kilometer, keinen Meter weniger. Ohne auch nur ein Mal auszusetzen, ohne Krankheits-Ausnahmen, ohne Verletzungspause, ohne andere wichtige Aussetzgründe. Denn sobald, aus welchem Grund auch immer, ein Streak unterbrochen wird, ist er vorbei und man muss wieder von vorn beginnen.
Wo ein Wille ist…
Wieder von vorne beginnen. Das ist leichter geschrieben als getan. Sicher, bei den kurzen Streaks sagt man sich schon mal: «Okay, einen Monat habe ich nicht geschafft, das versuche ich nochmal.» Aber wie ist es wohl, wenn man – sagen wir – 4 oder 5 Jahre am Stück, jeden Tag ohne Ausnahme gelaufen ist? Egal bei welchem Wetter, egal an welchem Ort? Und seine Serie unter- und somit abbricht?
Dann ist zumindest Eins gewiss: Dann ist man in der offiziellen Streak-Running-Liste auf www.runningeveryday.com nur ein Neophyte, also lediglich in der untersten Kategorie der Streak-Runner aufgenommen worden. Dort, wo mittlerweile Tausende gelistet sind, die nachweislich zwischen einem und bis fünf Jahre lang jeden Tag laufen oder gelaufen sind.
Neophyte, das ist so etwas wie ein «blutiger Anfänger» oder «Rookie», ohne dass dies despektierlich klingen soll. Denn immerhin sind diese Sportler zwischen 366 und 1825 Tagen jeweils mindestens eine Meile gelaufen.
Wer als «Proficient Runner» (kompetenter, geübter Läufer) eingestuft werden möchte, der muss einen Streak zwischen fünf und zehn Jahren vorweisen können. Bereits sind derzeit 1002 Läufer und Läuferinnen aus aller Welt unter dieser Gruppe aufgeführt (Stand 2022), also ein gutes Viertel der 3990 derzeit aktiven und gelisteten Streak-Runner.
Aber da geht noch mehr, viel mehr: Nach den «well versed» (15 bis 20 Jahre), den «Highly Skilled» (20 bis 25 Jahre), den «Dominators», «Masters», «Grand Masters», «Legends» und «Coverts» (45 bis 50 Jahre) gibt es sage und schreibe noch die Gruppe der «Hills»: Mehr als unglaubliche 50 Jahre laufen diese Streak-Runner bereits. Jeden Tag! Ohne auch nur eine Unterbrechung.
Vier Amerikaner im Dauermodus
Vier US-Amerikaner im Alter von 67 bis 78 Jahren traben auf diesem imaginären Gipfel des kontinuierlichen Laufs. Jon Sutherland (71) hat über 19391 Tage hinweg (53,6 Jahre) sein tägliches Laufpensum absolviert. Dicht gefolgt vom 78-jährigen Jim G-Pearson, der sich seit 1970 Streak-Runner nennt und 52,36 Jahre unterwegs ist (Stand 2022, Juni).
Damit haben die beiden den mittlerweile legendären Pionier der Streak-Running-Szene eingeholt: Der Brite Ron Hill lief von 1964 bis 2017 zweiundfünfzig Jahre lang jeden Tag. Und wahrscheinlich beschreibt die mittlerweile zum Leitmotiv avancierte simple Aussage des mehrfachen Olympiateilnehmers im Marathon (zweiter Mensch unter 2:10 h), woher gestandene Streak-Runner die Motivation nehmen: «Wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, macht mans einfach.» Als hätte er sich den Slogan eines Sportartikelunternehmens zum Lebensmotto gemacht; als wäre er von etwas infiziert, das er nun eben nicht mehr loswird und mit dem es sich ganz gut leben lässt.
Übrigens sind auch Frauen (fast) seit jeher unter den Streak-Runner zu finden. Absolute Spitzenläuferin ist die US-Amerikanerin Lois Bastien aus Florida – die 85-Jährige (!) läuft ihren Streak seit 42,20 Jahren, was 15412 Tagen entspricht. Die 81-jährige Barbara S. Latter folgt auf Rang 2 mit nur vier Jahren Rückstand. Was ungefähr einem Augenzwinkern in der Zeitschiene der Streak-Runner entspricht.
Schweizer Top-Streak: 17 Jahre
Auch Schweizer liessen sich anstecken. Den derzeit längsten Streak läuft Gerhard-Reinhard Milz aus Kreuzlingen. Der 66-Jährige gilt als «well versed» und hat bereits 17,08 Jahre täglichen Laufens geschafft – 6238 Tage.
Nach Streak-Running-Massstäben folgt ihm auf den Fersen Daniel Schnyder mit seinem 14,05 Jahre langen Streak. Angefangen hat Schnyder im Jahr 2006 – nach der Lektüre des FIT for LIFE-Artikels «Der Dauerläufer» über einen Streak-Runner. «Das ist genau das Richtige für mich», beschloss Schnyder spontan und blieb dabei. Sportlich war er zwar schon vorher, turnte im Verein, nahm an Volksläufen teil, doch «dass ich nach der Winterpause immer wieder bei Null anfangen musste», fand er lästig.
Das passiert ihm heute nicht mehr. Oder bloss in Ausnahmefällen. Sein erster Streak dauerte 401 Tage. Am 400. nahm er am Swiss City Marathon in Luzern teil und bekam in der Folge massive Hüftprobleme. Einen Tag ging er noch joggen, dann brach er die Serie ab. «Wer unvernünftig ist, ist kein guter Sportler.» Ein halbes Jahr später begann er eine neuen, den er bis jetzt am Laufen hält.
Unvernünftig? Gefährlich?
Streak-Runner, hört man oft, lebten gefährlich und seien unvernünftig. Der Ehrgeiz treibe sie dazu, auch dann zu laufen, wenn es für die Gesundheit schon gefährlich sei. Das Paradebeispiel: die Grippe. Wer mit Fieber läuft, riskiert eine Herzmuskelentzündung, wenn er sich zu sehr verausgabt.
Das klingt, als spule jeder Streak-Runner täglich einen Halbmarathon inklusive Fahrtspiel oder Intervalle herunter. Dem ist aber nicht so. Die meisten joggen zwar täglich, aber bloss eine halbe Stunde locker oder noch kürzer – da braucht der Körper keine tagelangen Erholungsphasen und wird er auch nicht stark beansprucht. Streak-Runner bestätigen, dass sie, seit sie ihre Läufe dokumentieren, weder schneller noch ehrgeiziger laufen, aber eben auch kurze Runden drehen, für die sie früher die Schuhe kaum geschnürt hätten.
Womit wir wieder beim Kontinuierlichen angekommen wären. Der physische Vorteil beim Streak-Running liegt ausgerechnet darin, dass die meisten Streak-Runner eben nicht leistungsorientiert im Sinne von Bestzeiten unterwegs sind. Auch sie geben dem Körper durch Superkompensation zwar durchaus Anreize, bieten ihm aber durch die geringe Intensität der Läufe die Möglichkeit, sich bis zum nächsten Tag wieder vollständig zu erholen.
Dennoch birgt die Regelmässigkeit, das immer Wiederkehrende auch gewisse Risiken. So kann der Druck des Vergangenen zu einer psychischen Last werden. Nach so vielen Tagen und Jahren aufhören? Das lässt der Stolz nur schwerlich zu. Sucht und Gesundheit liegen dann manchmal dicht beieinander.
Zeit für einen Streak hat man immer
Um den Bogen zum Anfang dieses Artikels zu schlagen: Die meisten Streak-Runner ziehen aus der Regelmässigkeit, jeden Tag mit den immer gleichen Bewegungsabläufen etwas für ihren Körper zu tun, erklärtermassen mentale Vorteile. Viele bezeichnen das mit einer mehr oder weniger langen Konzentration auf das Wesentliche. Das beruhigt, macht selbstsicher und konzentrierter: Egal wie dein Tag verläuft, egal was er geboten oder abverlangt hat – dieser, wenn auch mitunter kurze Lauf, gehört den Streak-Runner ganz allein.
Was nicht an einen Ort gebunden sein muss. Denn Streak Runner sind in den meisten Fällen Menschen, die mitten im Leben stehen, pardon: laufen. Zeit für 1,6 Kilometer findet man immer – oder man nimmt sie sich eben: Im Urlaub am Strand, auf Städtereisen die Sehenswürdigkeiten abtraben, auf Geschäftsreise vor dem Terminal auf- und ab-joggen, in der Mittagspause zum Bäcker ein paar Häuserblocks weiter entfernt laufen… – es gibt unzählige Möglichkeiten, seinen Streak zwischendurch konsequent fortzusetzen.
Schliesslich muss man der strikten Regelmässigkeit des Laufens nicht auch noch die Eintönigkeit der immer selben Laufstrecke aufsetzen. Wie das etwa Robert «Raven» Kraft seit nunmehr 47,5 Jahren zelebriert. Der Zweitplatzierte in der Abteilung «Coverts» auf der Streak-Runner-Liste ist so etwas wie der Guru der Szene, nicht zuletzt darum, weil er enorme Aufmerksamkeitswerte in internationalen Medien erreichen konnte.
Der 71-jährige Songwrirter startet jeden Morgen in schwarzer Laufkleidung am selben Strand von Miami Beach. Dort warten – bei schönem Wetter – Hunderte Fans und Mitläufer auf ihn, um gemeinsam das Tageslaufpensum im Sand des Strandes abzulaufen. Danach gibt Raven gerne noch Interviews, wird von TV-Kamerateams gefilmt oder er traut symbolisch Läuferpaare, die um seinen epischen Segen bitten.
Bei schlechtem Wetter (kann auch in Miami passieren) ist dann naturgemäss weniger los rund um Rober Raven Kraft. Dann joggt er eben mit zwei oder drei Fans seinen täglichen Streak auf dem immer selben Strand. Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr.
Nur einmal musste er seine gewohnte Strecke verlassen und seinen Streak-Lauf in den Häuserschluchten der Stadt absolvieren. Draussen am Strand wütete der Wirbelsturm Irma allzu stark mit orkanartigen Böen. Was Raven jedoch nicht in seiner täglichen Wiederholung unterbrechen konnte. Warum er denn um Himmels Willen immer weiter mache, wird er häufig von unwissenden Reportern gefragt. Seine Antwort ist immer die gleiche: «Damit ich morgen wieder laufen kann – und es nie aufhört.»
Das ist Streak-Running
Streak-Runner sind Läuferinnen und Läufer, die an jedem Tag im Jahr joggen gehen, mindestens eine Meile, also rund 1,6 Kilometer. Einen Tag auslassen gilt nicht, vor- oder nachholen ebenfalls nicht und der Einsatz technischer Hilfsmittel ist nicht erlaubt. Streak-Runner sind zwar Vielläufer, aber nicht zwingend auch Weitläufer, man kann auch jeden Tag einfach zehn bis fünfzehn Minuten joggen gehen, um die Bedingungen zu erfüllen. Streak-Runner dokumentieren ihre Läufe bzw. «Streaks», viele in Online-Foren. Ehrlichkeit ist Ehrensache. www.runeveryday.com