Steht bei Ihnen noch ein ungenutztes Velo im Keller? Dann ab damit zu Velafrica! Ein Augenschein in einer der Produktionsstätten.
Die Justizvollzugsanstalt Pöschwies steckt voller Überraschungen. Der Eingangsbereich gleicht einer Festung. Die Tür ist kaum zu erkennen. Für Besucher gelten die strengeren Sicherheitsmassnahmen als am Flughafen. Selbst die Schuhe werden gescannt, Handy und ID müssen beim Eingang abgegeben werden. Hier, in der grössten geschlossenen Justizvollzugsanstalt der Schweiz, sitzen die «schweren Jungs», rund 400 Männer, die zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr, zu einer stationären oder zu einer Verwahrungsmassnahme verurteilt wurden. Und hier, hinter den Gefängnismauern im zürcherischen Regensdorf, wird emsig gearbeitet an diesem Morgen.
Zu den Produktionsstätten gehört auch eine Velowerkstatt. Gefangene verschiedener Herkunft arbeiten an Fahrrädern, die auf Ständern fixiert sind. An der Decke hängen Dutzende verschiedener Räder, kleine und grosse, für Mountainbikes und Rennvelos, Citybikes und Kindervelos. Die Männer schrauben und pumpen. Montieren und schmieren. «Das ist unsere Velowerkstatt», sagt Montageleiter Björn Scheuber nicht ohne Stolz. «Hier werden Occasionsvelos verarbeitet, auseinandergenommen und wieder flott gemacht.» Letztes Jahr waren es 1700 Velos, die hinter den Gefängnismauern zu neuem Leben erweckt wurden. Damit zählt die Justizvollzugsanstalt Pöschwies zu den grössten Produktionsstätten für Velafrica.
Schrott wird zerpflückt
Ein Mann legt sich in der Werkstatt besonders ins Zeug: Daniel (36), seit vier Jahren schon in Haft. Aber in einem Monat, erzählt er, könne er in den offenen Vollzug. Dann winkt ihm – bei guter Führung – in einem Jahr die Freiheit. Vor der Inhaftierung war Daniel ein leidenschaftlicher Downhill-Mountainbiker. Er kennt sich aus mit Velos und ihren Eigenheiten. «Ich habe immer gerne geschraubt», erzählt er. Ein Mechaniker sei er nie gewesen, «aber hier bin ich einer geworden». Eben arbeitet er an einem Zweirad namens «Top-Bike», wobei selbst der Name der Marke buchstäblich abgegriffen ist. «Wir bekommen hier alle möglichen Velos», sagt Montageleiter Scheuber. «Manche sind fast neu, andere nur noch Schrott.»
Die Velos werden in Lastwagen aus Bern angeliefert, der Hauptsammelstelle von Velafrica. In der Werkstatt in der Pöschwies werden sie zuerst gründlich geprüft. «Die Sicherheit geht vor», stellt Scheuber klar. «Wenn der Rahmen eines Velos einen Riss hat, kommt es nicht nach Afrika.» In diesem Fall wird es zerpflückt («es gibt fast überall noch Teile, die man gebrauchen kann»), zersägt und fein säuberlich in verschiedenen Behältern nach Metallen getrennt und recycliert. Auf diese Weise sammelt Velafrica nebenher jedes Jahr fast 500 Tonnen Altmetall.
Trotz klarer Bestimmungen ist die Stimmung in der Gefängnis-Werkstatt erstaunlich gelöst. Ein Spruch darf schon mal sein. «Es tönt vielleicht komisch», sagt Häftling Daniel, «aber eigentlich mag ich die Arbeit hier». Es sei nicht selbstverständlich, dass er im Gefängnis einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen könne. Der Gedanke, mit seinem Wirken Gutes zu tun, erfülle ihn «mit Stolz». Schliesslich eröffne er mit jedem Velo, das er wieder instandsetze, mindestens einem Menschen in Afrika ein besseres Leben.
Darauf gründet die Idee von Velafrica: Die Menschen in Afrika mit Fahrrädern zu versorgen und sie damit auf dem Weg aus der Armut zu unterstützen. «Wir sind froh um jedes einzelne Velo», betont Paolo Richter, der Gründer von Velafrica, der operativ nicht mehr tätig ist, aber als Botschafter und Beirat die Organisation noch immer begleitet. «Jedes Velo zählt», fügt Richter hinzu, «jedes erleichtert jemandem das Leben in Afrika.» Das Velo hilft Kindern, deren Schulweg zu Fuss bis zu zwei Stunden dauert. Es hilft Frauen, die weite Wege gehen müssen, um zur nächsten Wasserstelle zu gelangen oder Gemüse und Früchte auf den Markt zu bringen. Und es hilft Männern, die mobil sein müssen, um den Lebensunterhalt ihrer Familie bestreiten zu können. «In Afrika sind 70 Prozent der Menschen noch immer zu Fuss unterwegs», weiss Richter, «oft stundenlang und schwer beladen».
Fahrrad = Lebensversicherung
Fast 40000 alte Fahrräder sammelt Velafrica jedes Jahr in der Schweiz. Spendewilligen stehen hierzulande 400 Sammelstellen zur Verfügung. Mit Hilfe von Vereinen, Schulen, Unternehmen und persönlich engagierten Menschen finden zudem jedes Jahr rund 100 Sammelanlässe statt. An den meisten Bahnhöfen können die Velos überdies kostenlos aufgegeben werden. Die gesammelten Velos werden dann in verschiedenen Einrichtungen in der Schweiz wieder fahrtüchtig gemacht. In Gefängnissen wie in Thun, Regensdorf, Dietikon und Deitingen, aber auch in Integrationsstätten wie der Basisbeschäftigung in Zürich. Und im Berner Liebefeld, dem Sitz von Velafrica, gibt es gar eine Halle, wo freiwillige Hobby-Mechaniker(innen) mit Herzblut mitarbeiten können. Von den 40 000 gesammelten Velos können 25 000 funktionstüchtig aufgefrischt und nach Afrika verschifft werden, wo sie den Menschen den Alltag erleichtern.
Wie jenen von Ernest Mwijage im Dorf Nshamba im Norden Tansanias. Ernest ist Wasserverkäufer. Tag für Tag fährt er das kostbare Gut zu seinen Kunden. 15 Touren macht er pro Tag. Für jede Lieferung Wasser erhält er umgerechnet zwischen einem und eineinhalb Franken. «Mit diesem Geld kann ich Essen und Kleider für mich und meine Familie kaufen.» Sein Fahrrad kommt aus der Schweiz und hat in Tansania ein zweites Leben erhalten. «Dieses Velo sichert mir das Überleben», sagt er. «Damit kann ich meinem Beruf nachgehen und meine Familie ernähren.»
Zigfach Genutzt
Sein Velo kostete 50 Franken. Diesen Betrag bezahlt Ernest der lokalen Organisation Vijana Bicycle Center, die mit Velafrica zusammenarbeitet, in Raten ab. Sein Cilo-Bike wird von der ganzen Familie, von Nachbarn und Freunden benutzt. Für den Besuch von Kranken und Verwandten. Für Einkäufe und Transporte. Für den Weg zur Kirche. Und mit Hilfe des Velos will Ernest seine Träume wahr machen. Er möchte mehr Land kaufen, sein Haus vergrössern. «Und ich möchte, dass meine Kinder zur Schule gehen können», sagt er. «Dafür arbeite ich hart.»
Solche Geschichten berühren Paolo Richter auch heute noch, 28 Jahre nach dem Start des Unternehmens. 1993 gründete der Zürcher, der in Spiez am Thunersee lebt, die Organisation «Drahtesel», ein Arbeitsintegrationsprojekt, das er infolge der hohen Arbeitslosigkeit Anfang der 90er-Jahre ins Leben rief. Aus «Drahtesel» ist Velafrica entstanden, zuerst als Projekt von Drahtesel, später als eigenständiges Unternehmen der Stiftung Sinnovativ. Mittlerweile beschäftigt Velafrica 20 Mitarbeitende, koordiniert Hunderte von Freiwilligen – und ermöglicht unzähligen Arbeitslosen, Flüchtlingen, Sträflingen, Zivildienstleistenden und Handicapierten eine sinnvolle Beschäftigung.
Sie alle sorgen am Ende dafür, dass in Antwerpen in Belgien Dutzende von Containern mit Velos nach Afrika exportiert werden können. Nach Tansania, Madagaskar, Burkina Faso, Südafrika, Elfenbeinküste, Gambia und Ghana. Mit neun Partnern, mehrheitlich Non-Profit-Organisationen, arbeitet Velafrica auf dem schwarzen Kontinent zusammen. Gefördert werden eine wirtschaftliche Zusammenarbeit und soziales Unternehmertum.
Eigene Ausbildung
Seit zehn Jahren führt Velafrica in Nshamba im Norden von Tansania auch eine eigene Ausbildungsstätte in Velomechanik. 70 Jugendliche absolvierten die zweijährige Lehre bislang. «Die meisten haben ihre Eltern durch Aids verloren», merkt Paolo Richter an. Geschult werden sie im Vijana Bicycle Center, wo die Schweizer Velos, die vor dem Export zerlegt wurden, wieder zusammengesetzt, gewartet und verkauft werden. Mit dem Erlös bezahlt Velafrica die Löhne der Arbeiter, die Transporte innerhalb der Schweiz und Afrika – und finanziert die Ausbildung von Lehrlingen. Der Kreis schliesst sich. «Am Ende können alle gewinnen», hält Initiator Paolo Richter fest. Für sein innovatives Modell zur Förderung von sozialen Unternehmen in Afrika ist Velafrica 2016 von der Swiss Re Foundation zur «Charity of the Year» gewählt worden, zur Wohltätigkeitsorganisation des Jahres. Kurz darauf erhielt Velafrica auch einen Preis für «innovative Arbeitsintegration von Personen aus dem Migrationsbereich und jungen Erwachsenen».
Solche Auszeichnungen freuen Paolo Richter. «Sie sind eine wunderbare Bestätigung für unser Tun.» Der heute 56-Jährige hätte nie daran gedacht, dereinst so viele Menschen für eine gute Sache bewegen zu können. «Es ist ergreifend zu sehen, wie viel ein gebrauchtes Zweirad bewirken kann.»
Am Anfang stand ein Dieb
Dabei begann die Erfolgsgeschichte von Velafrica mit einem Diebstahl. Als Mitte der 80er-Jahre das Jugendvelo von Paolo Richter gestohlen wurde, ersteigerte er bei den SBB drei gebrauchte Fahrräder und baute daraus ein neues Velo. «Von da an liess mich die Velomechanik nicht mehr los.» Richter lernte schweissen und begann, in der Freizeit mit Arbeitslosen Velos zu flicken. Während eines Entwicklungseinsatzes in Ghana kam er auf die Idee, Occasionsvelos nach Afrika zu exportieren. «Ich sah, unter welchen Strapazen die Menschen täglich stundenlang schwere Lasten zu Fuss trugen», erinnert sich der gelernte Sozialarbeiter und studierte Sozialwissenschaftler. Mit einem ghanaischen Freund setzte Paolo Richter die Idee in die Tat um und schickte 1994 den ersten Container mit Velos auf die Reise nach Ghana. Mittlerweile hat ermit Velafrica und seinen Partnern mehr als 250 000 Fahrräder exportiert.
250’000 Velos. Tönt nach viel, «ist aber ein Tropfen auf den heissen Stein», sagt Paolo Richter und gibt zu bedenken, dass in Afrika rund eine Milliarde Menschen leben, deren Bedarf an erschwinglicher Mobilität nach wie vor riesig ist. Und er gibt zu bedenken, dass in der Schweiz jedes Jahr etwa eine halbe Million Velos neu gekauft werden. Richter fragt sich: «Wo landen all die Velos, wenn sie nicht mehr gebraucht werden?»
Eine eigene Velowerkstatt
In der Justizvollzugsanstalt Pöschwies hat Häftling Daniel (36) inzwischen das verlotterte «Top-Bike» wieder instand gestellt und sauber herausgeputzt. «Fast wie neu», sagt er lächelnd und stellt es parat zum Transport. Was er denn zu tun gedenke, wenn er wieder frei sei? «Mit dem Bike einen geilen Trail fahren, darauf freue ich mich», sagt er. Und beruflich? «Ich träume von einer mobilen Velowerkstatt», sagt er mit leuchtenden Augen. «Vielleicht in der Nähe eines Bahnhofs, da können die Kunden am Morgen ihre Velos bringen und abends wieder abholen.» Daniel gehört zu jenen, die es schaffen können. Er hat «draussen», wie er sagt, eine Freundin und eine vierjährige Tochter.
Velafrica: Gut zu wissen
- Velafrica ist eine gemeinnützige Organisation. Sie hat seit 1993 mit ihren Partnern in der Schweiz über 250 000 Fahrräder gesammelt, repariert und nach Afrika exportiert.
- Velafrica finanziert sich mit dem Verkauf der Velos an Partner in Afrika, an Privatpersonen in der Schweiz (10 %) sowie aus Spenden.
- Wer sein Velo nicht mehr braucht, kann es gratis an 400 Sammelstellen abgeben. Dazu gehören auch die bedienten Gepäckschalter eines Bahnhofs. Vorab muss dafür bei Velafrica ein Transportgutschein bestellt werden: Tel. 031 979 70 50.