Der Engadin Skimarathon zählt seit Jahrzehnten zu den bedeutendsten Schweizer Sportanlässen. Worin liegt die Faszination des Kult-Events?
Was machen Sie am zweiten Sonntag im März? Vor der Corona-Pandemie war das für viele Freunde der schmalen Latten eine seltsame Frage, denn für Tausende von Langläufern ist der zweite Sonntag im März so unverrückbar wie das Bernina-Massiv, so klar wie die Engadiner Höhenluft – und mindestens so heilig wie Weihnachten. Denn am zweiten Sonntag im März findet der Engadin Skimarathon statt – seit Jahrzehnten, ja seit fast einem halben Jahrhundert das Saison-Highlight schlechthin. Die Corona-Pandemie hat an dieser Unverrückbarkeit kräftig gerüttelt, doch aktuell bestehen berechtigte Hoffnungen, dass der Engadiner, wie er im Volksmund genannt wird, endlich wieder stattfinden kann.
Meldezahlen auf hohem Niveau
Der Engadiner ist Kult, ist Ritual, ist eine Institution, eine feste Grösse im Sportkalender. Kaum eine andere Veranstaltung hierzulande vereint Masse und Klasse derart konstant wie der Traditionsevent im Engadin.
Was im Jahr 1969 mit 945 Teilnehmern begann, hat sich zu einem der bedeutendsten Sportanlässe der Schweiz entwickelt. Der Engadin Skimarathon ist längst zum Klassiker avanciert – wie der Riesenslalom in Adelboden, die Lauberhorn-Abfahrt in Wengen oder der Spengler-Cup in Davos. Das ist in unserer schnelllebigen Zeit keine Selbstverständlichkeit: In andern Sportarten sind Klassiker von der Bildfläche verschwunden: Das Swiss Bike Masters in Küblis beispielsweise, das in den 90er-Jahren noch 4000 begeisterte Langstrecken-Mountainbiker ins Prättigau zu locken vermochte, musste aufgrund des massiven Teilnehmerschwundes und der damit verbundenen finanziellen Schwierigkeiten vor zwei Jahren kläglich eingestellt werden. Der Swiss Inline Cup, der in den 90er-Jahren mehr als 20 000 rollende Skater zu mobilisieren vermochte, landete mehr und mehr schmerzlich in den Abschrankungen. Und der Gedenklauf Murten–Fribourg, die älteste Schweizer Laufveranstaltung, verlor zwischen 1985 (16 338 Anmeldungen) und 1997 (5793 Klassierte) fast zwei Drittel aller Teilnehmer und musste nach 65 Jahren – wie ein Rentner ohne AHV – ernsthaft um die Existenz bangen.
Die Teilnehmerzahlen beim Engadin Skimarathon hingegen blieben auf einem hohen Niveau stabil – erstaunlich stabil. Bereits im Jahr 1976 zog der Engadiner erstmals über 10 000 Läuferinnen und Läufer an. Seither ist die Meldezahl konstant im fünfstelligen Bereich geblieben. Trotz Wetterunbill, trotz Massenansammlungen und Platznöten. Selbst die (bislang einzige) Absage im Jahr 1991, als sich aufgrund eines Wärmeeinbruchs knöcheltiefes Wasser auf den zugefrorenen Seen bildete, konnte dem Traditionsanlass nichts anhaben. Und auf das zwischenzeitliche Tief im Jahr 2007 (10 441 Anmeldungen) folgte im Sog von Überflieger Dario Cologna ein regelrechter Aufschwung, eine Renaissance in der Loipe. Langlauf ist wieder hip. Langlauf boomt. Nicht nur als Leistungs-, sondern auch als Gesundheitssport. Die höchste Teilnehmerzahl verzeichneten die Organisatoren beim 50-Jahr-Jubiläum 2018 (14 200).
Auch Bundesräte laufen mit
Was für den Engadin Skimarathon spricht: Der Lauf findet inmitten einer wunderbaren Bergkulisse statt, die Strecke von Maloja nach S-chanf ist – abgesehen vom Abschnitt von St. Moritz durch den Stazerwald nach Muottas Muragl – relativ flach, technisch einfach und deshalb auch für mässig Geübte geeignet. So kommen jedes Jahr zwischen 3000 und 4000 Einsteiger hinzu. Denn ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass – wer als Hobby-Langläufer halbwegs ernst genommen werden will – er mindestens einmal den Engadiner absolviert haben muss. Auch Grössen aus andern Sparten sind dem sanften Druck erlegen: Viktor Röthlin wagte sich schon in seiner besten Zeit als Marathonläufer auf die schmalen Latten, Extrembergsteiger Ueli Steck testete mehrmals seine Kondition für sein nächstes Himalaja-Abenteuer – und Altbundesrat Adolf Ogi hat gar bereits das Abzeichen für 15 Teilnahmen an sein Revers geheftet. Da müssen sich die langlaufenden Magistraten Ueli Maurer und Johann Schneider-Ammann sputen, wenn sie diese Marke noch erreichen wollen….
Die zehn ältesten Teilnehmer am Engadiner sind zwischen 85 und 88 Jahre alt. Was zwei Thesen erneut bestärkt. Erstens: Langläufer leben länger! Und zweitens: Auch als potenzieller Urgrossvater ist ein Skimarathon noch immer machbar. Langlaufen schont und schönt! Für den Grossteil der Marathon-Teilnehmer hat der Engadiner relativ viel Prestigewert. Nicht wenige absolvieren bloss einen einzigen Wettkampf im Jahr: eben den Engadin Skimarathon. Entsprechend prioritär sind die Leistung, die Zeit, der Rang. Kaum eine Rangliste eines Schweizer Sportevents ist derart verbreitet wie jene des Engadiners. In früheren Jahren sind die Resultate noch vollumfänglich in der «Schweizer Illustrierte», im Fachblatt «Sport» und im «FIT for LIFE» publiziert worden, Rang um Rang, Name um Name. Und selbst heute in der Online-Ära publizieren Regionalzeitungen noch immer seitenweise Resultat-Auszüge ihrer Lokalmatadoren. Für den Teilnehmer gilt dabei: Mindestens so schnell zu sein wie letztes Jahr. Oder noch wichtiger: Schneller zu sein als der Kollege.
«No Time» als No-Go
Durchaus unterhaltsam ist, wie viele Teilnehmer im Vorfeld des Rennens tiefstapeln, ja oft gar klagen über die mangelhafte Vorbereitung. Hören Sie mal genau hin: Viele Ihrer Kollegen konnten ungenügend trainieren, aus beruflichen oder gesundheitlichen Gründen, mal zwickte der Rücken, mal die Wade. Alles nur Taktik. Man(n) will seine Karten nicht auf den Tisch legen.
Der Engadin Skimarathon ist so schön wie kompetitiv. Für viele ist er der wichtigste Sportanlass im Jahr, entsprechend ehrgeizig sind sie unterwegs. Oder haben Sie im Feld der Elite-Läufer oder der Hauptklasse jemals eine lockere Diskussion geführt? Vor 10 Jahren haben die Organisatoren versucht, den «Genussläufer» zu forcieren. Doch die Aktion «Finisher – No Time» erwies sich als veritabler Flop. Nur ganz wenige Teilnehmer wählten den speziell markierten Zieleinlauf, um in der Rangliste ohne Zeitangabe aufgelistet zu werden. Und von jenen, die es gleichwohl taten, schämten sich manche wohl für ihre Zeit.
Keine Frage: Andere Schweizer Langlaufrennen verlaufen stressfreier als die Massen-Veranstaltung im Engadin, wo mehr als 10 000 Leute zur fast selben Zeit die besten Plätze beanspruchen: sowohl im Startgelände in Maloja wie bei den engen Passagen von St. Moritz durch den Stazerwald nach Pontresina und schliesslich heimwärts in den Zügen der Rhätischen Bahn. Der Stau beim Aufstieg zur Olympiaschanze, das Gedränge im Aufstieg zum Stazerwald oder die waghalsigen Überholmanöver im Nadelöhr bei der Talstation von Muottas Muragl haben schon manche Stürze und noch mehr Flüche provoziert. In Einzelfällen haben Teilnehmer, die sich in korrektem Verhalten übten, andere Läufer, die etwas gar eifrig unterwegs waren, auch schon mit den Skistöcken gemassregelt oder mit Schimpfwörtern, die an dieser Stelle nicht zitiert werden sollen. Der Grossteil aber begegnet den Staus mit der erprobten Geduld aus den Karosserie-Kolonnen vor dem Gubrist oder vor dem Gotthard. Der Anteil der Frauen (knapp ein Viertel) hat in den letzten Jahren jedenfalls nicht abgenommen, obwohl seit 2000 eine Woche vor dem Marathon jeweils ein eigener Frauenlauf (mit rund 1000 Läuferinnen) inszeniert wird.
Zahl der Ausländer wächst
Der Engadiner ist noch immer ein Schweizer Anlass für Schweizer. Aus allen 26 Kantonen strömen die Läuferinnen und Läufer ins Hochtal, rund 70 Prozent der Teilnehmer sind Schweizer. Die Beteiligung aus dem Ausland wächst aber stetig. Vor allem aus Deutschland, aber auch Norwegen, Grossbritannien und Tschechien rekrutieren sich immer mehr Langlauf-Lustige. Mittlerweile umfasst das Feld Teilnehmer aus 62 Nationen, darunter Exoten aus Mexiko, Japan, Brasilien, Saudi-Arabien, Griechenland und Indien. Auch sie dürften am Abend des zweiten Sonntags im März zu den Siegern zählen – sofern sie die Abfahrt im berühmt-berüchtigten Stazerwald heil überstehen und kein dem Grossevent kein kleines Virus einen Strich durch die Rechnung macht.