Ernährungsexpertin und Marathonläuferin Joëlle Flück
«Alltags- und Sporternährung sind komplett unterschiedlich»
Eine gezielte Sporternährung ist ihr Thema und gleichzeitig ist sie begeisterte Marathonläuferin mit einer Bestzeit von schnellen 2:44 Stunden. Die Sport- und Bewegungswissenschafterin sowie Präsidentin der Swiss Sports Nutrition Society Joëlle Flück weiss, welche Ernährungstheorien sich in der Praxis umsetzen lassen und was viele Hobbysportler häufig sträflich vernachlässigen.
Interview: Andreas Gonseth
Joëlle Flück, wann haben Sie das letzte Mal etwas richtig Ungesundes gegessen?
Was verstehen Sie unter etwas Ungesundem?
Sagen Sie es mir.
Es gibt keine Definition. Und schon gar nicht von einzelnen Lebensmitteln. Ungesund bedeutet für mich eine langfristig unausgewogene, sehr einseitige und hochkalorische Ernährungsweise als Ganzes.
Dann «sündigen» Sie punktuell?
Wenn man dem so sagen will, ja. Generell verzichte ich nicht und esse auch Süsses. Letzthin war ich beispielsweise bei meinem Bruder zum Brunch eingeladen, typisch schweizerisch mit Rösti, Eier, Speck, Gipfeli, Zopf und Kuchen. Im Kontext des familiären Beisammenseins habe ich das sehr genossen und auch viel gegessen, aber natürlich ist ein solcher Brunch in meiner Alltagsernährung eher die Ausnahme.
Mit welcher Ernährung sind Sie gross geworden?
Ich bin in Hubersdorf aufgewachsen, einem 500-Seelen-Dorf in der Nähe von Solothurn. Es hatte keinen Laden und wir machten bei der Grossmutter Ferien auf dem Bauernhof mit frischer Milch, Eiern, viel Gemüse und selbstgemachter Konfitüre, also schweizerisch währschafter Küche. Zuhause assen wir meist über Mittag warm und dann am Abend «Café complet», weil die ganze Familie aktiv im Turnverein oder bei der Läufergruppe unterwegs war.
Essen Sie heute grundlegend anders?
Nein, meine Kindheit war sicher sehr prägend für mein Essverhalten. Auch heute achte ich auf viele natürliche Grundnahrungsmittel und viel Gemüse. Es haben sich tendenziell die Menge und Zusammensetzung verändert, aber nicht unbedingt die Art der Nahrungsmittel.
Sie sind Marathonläuferin, da spielt auch das Gewicht eine Rolle. Läuft das schlechte Gewissen mit, wenn Sie sich überflüssige Kalorien gönnen?
Nein. Mittlerweile weiss ich, dass ich mir problemlos etwas gönnen kann, wenn ich Lust dazu habe. Sport gehört zu meinem Leben und ich liebe das regelmässige Laufen, aber ich habe keine konkreten Ziele mehr, die ich unbedingt verfolgen will. Für mich stimmt die Balance zwischen Training, Arbeit, Erholung und ausreichender Energiezufuhr. Müsste ich mehr trainieren oder weniger Essen, wäre das Risiko gross, die Balance zu verlieren.
War das früher anders?
Ich war früher Mittelstreckenläuferin und da war es oft eine Gratwanderung, alles optimal unter einen Hut zu bringen. Als ich nach dem Studium angefangen habe zu arbeiten, stimmte die Balance nicht mehr. Ich war plötzlich häufiger verletzt und habe dann meine Bahnkarriere beendet. Heute habe ich keine speziellen Ambitionen mehr und weiss, wie wichtig im Sport eine gute Ernährung und genügend Erholung sind.
Was sind für Sie persönlich die wichtigsten 5 Ernährungs-Grundsätze?
1.Ich esse mindestens einmal am Tag komplett ausgewogen. Wenn ich über Mittag trainiere, esse ich am Abend warm.
2. Ich esse viel frisches Gemüse und frische Früchte und auch regelmässig Fisch.
3. Ich achte auf eine regelmässige und genügend hohe Proteinaufnahme. Dafür wähle ich auch Milchprodukte.
4. Ich schenke der Ernährung unmittelbar vor, während und nach dem Sport spezielle Beachtung, denn diese trägt zum Trainingsfortschritt bei.
5. Ich trinken genug. Das geht manchmal im hektischen Alltag unter, deshalb nehme ich immer eine Trinkflasche mit zur Arbeit.
Unterscheidet sich eine gesunde Alltagsernährung von einer gezielten Sporternährung?
Ja, das sind komplett unterschiedliche Situationen. Vorher und während dem Sport gilt es genügend Energiereserven für eine sportliche Leistung zu haben, danach geht es darum, die Speicher wieder aufzufüllen und die Regeneration zu gewährleisten. Gels beispielsweise gehören zu einer gesunden Alltagsernährung nicht dazu, im Sportsetting aber bieten sie bei Ausdauerleistungen viel Energie in kompakter Form, ohne den Magen zu belasten. Bei Ballaststoffen ist es genau umgekehrt. Sie sind zwar äusserst wertvoll für eine gesunde Ernährung, behindern aber im unmittelbaren Vorfeld eingenommen die sportliche Leistung, weil sie nicht oder schlechter verdaut werden und darum im Darm liegen bleiben. Bei einer sportlichen Belastung konzentriert sich der Blutfluss vorwiegend auf die Muskulatur. Sind zu viele Nahrungsfasern im Darm, kann dies zu Verdauungsproblemen während der Belastung führen. Bei der Ernährung für die sportliche Leistung dominieren Sinn und Zweck, die Alltagsernährung hingegen ist deutlich lustorientierter.
«Bei der Ernährung für die sportliche Leistung dominiert der Intellekt, die Alltagsernährung hingegen ist deutlich lustorientierter.»
Wie wichtig sind für Sie Praxisbezug und Selbstexperiment?
Ich habe wohl schon ziemlich alles ausprobiert, was in der Wissenschaft beschrieben ist. Für mich ist das wichtig, obwohl einige Dinge sehr persönlich sind und man nur bedingt generelle Rückschlüsse daraus ziehen kann. Ein positives Aha-Erlebnis hatte ich beim Koffein. Früher trank ich keinen Kaffee, doch während meiner Masterarbeit habe ich angefangen, gezielt mit Koffein zu supplementieren. Bei 5-km-Läufen spürte ich die Wirkung am positivsten, ich fühlte mich besonders gut und wesentlich lockerer. Schlechte Erfahrungen hingegen habe ich mit Randensaft gemacht, das hat mein Magen-Darm-Trakt überhaupt nicht vertragen.
Empfehlen Sie auch Hobbysportlern, mehr auszuprobieren?
Die passende Wettkampfverpflegung ist extrem wichtig. Daher erstaunt es mich vor allem bei langen Distanzen immer wieder, wie gedankenlos viele auch ambitionierte Sportler diesbezüglich unterwegs sind. Es gibt viele, die im Training beim Longrun nur mit 2 dl Flüssigkeit pro Stunde unterwegs sind und dann denken, sie könnten im Wettkampf einfach so auf 6 dl steigern. Viele machen sich im Training zudem kaum Gedanken über die passende Kohlenhydratmenge unter Wettkampfbelastung. Der Körper muss darauf trainiert werden, dass er beim Laufen hohe Kohlenhydratmengen aufnehmen und verdauen kann. Wer im Training kaum Kohlenhydrate einnimmt, läuft Gefahr, dass es beim Wettkampf zu Magen-Darm-Problemen kommt. Für Marathonläufer ist es daher zentral, die optimale Verpflegungsstrategie im Vorfeld in den langen Läufen zu trainieren und auszutesten.
Wie ernähren Sie sich bei einem Longrun?
Das kommt darauf an, um welche Zeit ich den Longrun starte. Wenn ich sehr früh starte – zum Beispiel im Sommer bei grosser Hitze – esse ich nur wenig Brot vorher und verpflege mich schon sehr früh im Longrun. Ich benutze meist Wasser und Gels. Das ist für mich am einfachsten, wenn ich allein unterwegs bin. Unmittelbar danach nehme ich ein Elektrolytgetränk, um den Schweissverlust zu kompensieren und einen Proteinshake. Oder ich esse kleine Snacks wie eine Banane oder ein Energieriegel. Während ich zu Hause dusche, wärme ich das Essen auf, das ich abends zuvor vorbereitet habe. Nach Longruns kämpfe ich oft etwas mit dem Appetit und habe nicht immer Lust zu essen, es fällt mir deshalb einfacher, wenn ich bereits etwas vorbereitet habe. Am Nachmittag nach dem Longrun gibt es häufig Kaffee und Kuchen.
Absolvieren Sie lange Läufe auch gänzlich nüchtern?
Nein. Lange Läufe absolviere ich nie nüchtern. Wenn ich nüchtern laufe, sind es eher kürzere oder sehr lockere Läufe von 45 bis 60 Minuten Dauer. Teilweise absolviere ich längere Läufe von 20-25 Kilometern, während denen ich nur wenig oder gar nicht verpflege. In der Marathonvorbereitung kommt das aber eher selten vor.
Und wie verpflegen Sie sich bei einem Marathon?
Im Vorfeld fülle ich die Kohlenhydratspeicher vollständig auf, rund die Hälfte davon flüssig. Während des Marathons nehme ich rund 60 Gramm Kohlenhydrate pro Stunde ein. Ich rechne dabei mit 7-8 Gels, das sind etwas mehr als 60 Gramm pro Stunde, weil man oft nicht immer das ganze Gel leert. Hintenraus für die letzten Kilometer wird es immer schwieriger die Kohlenhydrate aufnehmen zu können und zu viele Kohlenhydrate können Magen- oder Darmprobleme verursachen.
Sie sagen, die richtige Verpflegung vor und während dem Sport unterstützt die Leistung. Ist das auch wichtig für Sportler, die nicht auf Effizienz aus sind?
Wer viel trainiert, muss auch genügend Energie zuführen. Ist dies nicht der Fall, kommt ein Sportler in ein relatives Energiedefizit. Dem Körper bleibt zu wenig Energie, um seine wichtigsten Körperfunktionen aufrecht zu erhalten. Es kommt langfristig zu gesundheitlichen Einschränkungen wie einer erhöhten Verletzungs- oder Infektanfälligkeit, einer reduzierten Knochendichte oder einem Ausbleiben der Menstruation. Auch wer nur aus Lust und Laune viel trainiert, muss seinem Körper die notwendige Energie zuführen, um gesund zu bleiben.
Ist nicht ebenfalls verbreitet, dass bei moderaten und kurzen sportlichen Betätigungen zu viele sportspezifische Produkte eingenommen werden wie Riegel, Gels oder Sportgetränke, auch wenn sie gar nicht nötig wären?
Da würde ich differenzieren in Leistungs- und Hobbysport. Viele ambitionierte Ausdauersportler neigen dazu, zu wenig Energie zuzuführen, auch während den Trainings. Im Breitensport sehen wir manchmal das Gegenteil, da werden trotz geringen Intensitäten oder kurzen Einheiten energiereiche Nahrungsmittel oder Supplemente eingenommen, ohne dass sie nötig sind.
«Die meisten trainieren ihren Magen-Darm-Trakt in der Vorbereitung auf einen Wettkampf zu wenig.»
Wie oft hatten Sie beim Sport Magenprobleme?
Früher auf der Bahn regelmässig. Ich litt nach Wettkämpfen oft an Darmkrämpfen. Da habe ich herausgefunden, dass für mich das Timing wichtig ist, früh genug vor einem Wettkampf das letzte Mal richtig zu essen. Normalerweise empfiehlt man vier Stunden, bei mir waren es rund fünf Stunden und danach nur noch ein kleiner Snack vor dem Einlaufen.
Gibt es Unterschiede zwischen Mann und Frau bezüglich optimaler Ernährung?
Man weiss es nicht genau, denn es gibt bislang kaum Studien, weil die bestehenden meist mit Männern durchgeführt wurden. Bei den Frauen ist grundsätzlich die hormonelle Situation anders. Allgemein kann man sagen, dass bei Frauen die Gewichtsproblematik im Ausdauersport tendenziell ausgeprägter ist. Ob Mann oder Frau: Ganz entscheidend ist, dass die optimale Ernährung individualisiert und bedarfsgerecht geplant wird.
Gibt es Unterschiede zwischen den Ausdauersportarten?
Beim Laufen ist eine adäquate Energiezufuhr während dem Wettkampf schwierig aufgrund der dauernden Erschütterungen des Magen-Darm-Traktes. Bei Sportarten wie Radfahren ist die Verpflegung etwas einfacher. Zudem ist man beim Radfahren – anders als im Laufsport – nicht zwingend dauernd am Limit, sondern man kann sich je nach Gelände oder Rennkonstellation kurzfristig erholen. Auf dem Velo können dafür mit der gebückten Position auf dem Rad oder schwierigen technischen Passagen wie beim Biken erschwerende Faktoren hinzukommen.
Mit welchen Fragen werden Sie bei Beratungsgesprächen mit Sportlern am meisten konfrontiert?
Mit Grundlagenfragen. Wie viel Energie braucht es genau? Wie und mit welchen Inhalten soll ich das Sportgetränk mixen? Oft werde ich aber auch mit neuen Supplementen oder Ernährungstrends konfrontiert. Dort ist oft eine Einordnung bezüglich Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit gefragt. Im Netz oder auf Social Media sind enorm viele unterschiedliche Infos zu Ernährungsthemen zu finden, eine korrekte Einordnung ist für den Laien fast unmöglich.
Was sind die drei häufigsten Fehler, die Sportler immer wieder machen?
Erstens: Die meisten gehen zu wenig systematisch an die Ernährungsfrage heran und trainieren den Magen-Darm-Trakt zu wenig bei intensiven Belastungen und in der Vorbereitung auf den Zielwettkampf. Zweitens: Sie schenken der regelmässigen Proteinzufuhr zu wenig Beachtung und konzentrieren sich zu spezifisch nur auf die Zeit nach dem Training. Und drittens: Viele gewichten den Wert von Supplementen zu hoch ein. Das ist sicher auch eine Folge der intensiven Bewerbung solcher Produkte. Viele können nicht einschätzen, was wirklich nötig ist und was nicht. Wer gesund und vielfältig isst, erreicht im Alltag eine genügende Energieversorgung mit ganz normalen Lebensmitteln.
Joëlle Flück ist Sport- und Bewegungswissenschafterin, Ernährungsexpertin und Präsidentin der Swiss Sports Nutrition Society (SSNS), der Fachgesellschaft für Sporternährung in der Schweiz. Die 38-Jährige hat eine Marathonbestzeit von 2:44:07 h, gelaufen beim diesjährigen Zürich Marathon.