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Dynamischer, bequemer, schneller: Die neuste Generation Karbonschuhe lässt Läuferherzen höherschlagen. Die Bauweise der Schuhe sorgt allerdings nicht nur für Tempo und effiziente Kraftübertragung, sondern kann auch Verletzungen provozieren. Wie Schweizer Elite-Läufer damit umgehen und was Experten zu den Risiken und zum schonenden Einsatz sagen.

In den letzten Monaten übertrumpfte eine Marathon-Erfolgsmeldung die andere, die Rekorde purzelten: Weltrekorde bei Frauen wie Männern, aber auch Schweizer Rekorde von Fabienne Schlumpf und jüngst Tadesse Abraham. Sucht man nach Gründen für diese Entwicklung, steht seit einigen Jahren automatisch ein Thema zur Diskussion: die neuste Generation von Karbonschuhen.

Für den Durchbruch in der Welt des Leistungssports sorgte Nike. Der Schuhgigant aus den USA setzte auf die Olympischen Spiele 2016 in Rio als erster Hersteller Karbonschuhe ein und belegte damit im Marathon gleich die ersten vier Plätze. Kurze Zeit später setzte Nike 2017 mit dem Breaking2-Projekt von Eliud Kipchoge in Monza noch einen drauf und sorgte dafür, dass diese Konstruktionsweise zum dominierenden Thema in der Laufschuh-Welt wurde. Nike veränderte am bestehenden Wettkampfschuh-Konzept drei entscheidende Dinge:

1. Die Geometrie des Schuhs

Die gesamte Zwischensohle wurde erhöht, sodass der Fuss im Schuh wie auf einem Luftkissen zu liegen kommt und trotz der dicken Sohle eine geringe Sprengung aufweist. Als Sprengung wird der Niveau-Unterschied zwischen Ferse und Zehen bezeichnet. Um die Gefahr eines Überknickens zu verringern, wurde zudem die Auflagefläche der Sohlen vergrössert, teilweise ragt diese seitlich über den oberen Schuhrand hinaus.

2. Neuartiges Zwischensohlenmaterial

Nike nutzte in der Zwischensohle ein neuartiges Schaum-Material mit besten Dämpfungseigenschaften bei erstaunlich geringem Gewicht. Dadurch kann der Schuh trotz grossem Volumen und einer Sohlendicke von bis zu vier Zentimetern enorm leicht konstruiert werden.

3. Karbonplatte

Durch das enorme Volumen und die hohe Dämpfungseigenschaft der Sohle wurde – ähnlich wie früher beim Boost von Adidas – der gesamte Schuh-Unterbau instabil. Nike löste das Problem mit einer Karbonplatte als stabilisierendem Element. Diese sorgt vor allem bei Mittel- und Vorfussläufern dafür, dass die eingesetzte Energie nicht in der Sohle verpufft, sondern wie mit einem Katapult in Vortrieb umgesetzt werden kann. Im Prinzip können auch andere Materialien wie Kunststoff zur Stabilisierung eingesetzt werden, aber Karbon ist bezüglich Steifigkeit anderen Materialien überlegen.

Zweiklassengesellschaft bis 2020

Nach dem pompös inszenierten Monza-Projekt 2017 setzte bei den Trägern von Karbonschuhen eine weltweite Euphorie ein. Lange war der Wettstreit an der Spitze bezüglich Laufschuhen aber eine Zweiklassen-Gesellschaft. Hier die Nike-Athleten, welche die Marathons dominierten. Und daneben alle übrigen Profis, die vertraglich an andere Laufschuhmarken gebunden waren und realisierten, wie chancenlos sie waren – Form hin oder her.

«Du denkst: Schade, der ist auf meinem Niveau, aber ich muss jeden Kilometer einen Schritt mehr machen als er. Und du hoffst, dass dein Ausrüster bald mit einem ähnlichen Schuh kommt», erzählte beispielsweise Tadesse Abraham über seine Gedankenwelt in den Jahren ab 2017. Der schnellste Schweizer Marathonläufer war damals vertraglich an Adidas gebunden und kann erst seit drei Jahren in Karbonschuhen laufen.

Adidas erstes Karbonmodell erschien 2020, und auch andere Marken konnten in den ersten Jahren nach Nikes grossem Coup noch keine konkurrenzfähigen Modelle präsentieren. Mittlerweile hat sich die Situation aber ausgeglichen und die meisten grossen Marken verfügen über gleichwertige Schuhe. Tigest Assefa pulverisierte den Marathon-Weltrekord bei den Frauen in einem Adidas-Modell, Tadesse Abraham seinen Schweizer-Rekord in On und Fabienne Schlumpf ihrerseits ihren Schweizer Rekord in Nike-Schuhen.

Euphorie bei den Sportlern

Die meisten guten Läufer sind auf Anhieb begeistert von den Eigenschaften von Karbonschuhen. «Das Laufgefühl ist super», sagt Fabienne Schlumpf. «Ich fühle mich sehr wohl in den Schuhen und reagiere sehr gut darauf.» Auch Tadesse Abraham zeigt sich begeistert: «Du leidest weniger. Dein Laufstil ist ganz anders und schaut auch viel schöner aus. Ohne Karbon bist du nicht derselbe.» Für den Schweizer Marathonläufer Adrian Lehmann sind Karbonschuhe gar ein Game-Changer: «Bevor ich auf Karbonschuhe wechseln konnte, sind mir eine zeitlang Athleten davongelaufen, die sonst auf meinem Niveau waren.»

Trotz aller Euphorie setzen die Schweizer Spitzenläufer die Schuhe nur sehr dosiert ein. «Ich laufe alle schnellen Einheiten sowie die schnelleren Longruns in Karbonschuhen und kann mehr trainieren, weil die Muskeln nach diesen Trainings nicht so zerstört sind», sagt Abraham. Den grössten Unterschied spürt der 41-Jährige nach einem harten Longrun. «Früher mussten wir danach einen Tag komplett aussetzen und konnten drei Tage nur locker trainieren. Heute geht es am nächsten Tag normal weiter.» Trotz der spürbaren Vorteile läuft Abraham nur ganz gezielt in Karbonschuhen: «In einer normalen Trainingswoche mit rund 200 Kilometern trage ich sie nur für 25–30 Prozent der Totaldistanz.»

Auch Adrian Lehmann – er in einem Asics-Modell – läuft nur ausgewählte Einheiten in Karbonschuhen. «Aktuell verfahre ich nach der Devise try and error. Dass ich sie nur teilweise benutze, ist eher eine Vorsichtsmassnahme.» Lehmann läuft in der Aufbauphase auf einen Marathon hin «praktisch nie» in Karbonschuhen, in einer dreimonatigen Marathonvorbereitung dann «rund ein- bis zweimal pro Woche».

Fabienne Schlumpf mit «Doppelstart»

Fabienne Schlumpf läuft ebenfalls oft mit normalen Trainingsschuhen: Karbonschuhe läuft sie im Wettkampf und bei marathonspezifischen Trainingseinheiten wie längeren Intervallen und Longruns. «Der Umfang hängt sehr von der Trainingsphase ab. Je näher der Marathon kommt, desto öfter trage ich sie im Training, aber eigentlich nie öfter als zweimal pro Woche. Und ausserhalb der Marathonvorbereitung trage ich sie im Training nie», so die 33-Jährige. Auch bei Schlumpf ist der Grund für ihren zurückhaltenden Einsatz eher eine Vorsichtsmassnahme: «So hatte ich bisher keine Probleme und auch keine Verletzungen. Und ich habe das Gefühl, mich schneller zu erholen.»

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Die regenerativen Vorteile von Karbonschuhen haben Schlumpf vor wenigen Monaten zu einem Doppelstart bewogen, der noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre. Zuerst startete die 33-Jährige beim Berlin-Marathon im September, nur zehn Wochen danach lief sie den Valencia-Marathon. Bei beiden Einsätzen verbesserte sie ihren eigenen Schweizer Rekord deutlich (auf aktuell 2:24:30 h) und hatte danach keinerlei Beschwerden.

Dass sich die Höchstbelastung bei der Marathondistanz mit der neuen Laufschuhtechnologie verändert hat, bestätigt auch Tadesse Abraham: «Um den Unterschied zu sehen, muss man nur uns Eliteläufer nach der Ziellinie beobachten. Da feiern, hüpfen und springen alle. Früher, mit den alten Schuhen, lagen alle wie tot am Boden.»

Neue Verletzungsmuster

Wie viel die Karbonschuhe den Laufsport schneller machen, kann bis heute nicht beantwortet werden, aber sie haben definitiv ihren Anteil an der Rekordflut. Die Verlockung, sie möglichst oft einzusetzen, ist daher gross. Gleichzeitig ist es naheliegend, dass etwas, was den Menschen schneller macht, auch automatisch Einfluss auf die biomechanischen Verhältnisse während des Laufens haben muss. Hört man sich bei Spezialisten um, die sich in erster Linie mit Prävention oder gesundheitlichen Problemen auseinandersetzen, haben die Karbonschuhe auch ihnen mehr Kundschaft beschert, sprich: Die Verletzungen häufen sich.

«Die instabile Situation von Karbonschuhen rund ums Sprunggelenk hat dazu geführt, dass sich Achillessehnen- und Schienbeinprobleme häufen», sagt Christian Kryenbühl, Mitinhaber und Geschäftsleiter der Firma swissbiomechanics, die Lauf- und Ganganalysen sowie Mass-Einlagen anbietet. Interessanterweise verändert die neuartige Bauweise scheinbar auch die bislang gewohnten Verletzungsmuster. «Der Oberschenkelhals wird vermehrt unter Stress gesetzt», sagt Laurent Hoffmann, CEO und Inhaber der Firma Numo, die sich auf orthopädische Lösungen spezialisiert hat und stark im Sport engagiert ist. «Das provoziert Oberschenkelhals- und Beckenprobleme. Ich kenne Triathletinnen, bei denen der Oberschenkelkopf nachgeschliffen werden musste.»

Auch Schambeinentzündungen oder Stressfrakturen des Kreuzbeins können die Folge sein. Laurent Hofmann begründet das folgendermassen: «Durch die Schuhe bzw. die Höhe der Sohle wird die Pronation erhöht. Dadurch kann diese aber nicht mehr nur durch den Fuss gesteuert werden und die Belastung wandert weiter nach oben Richtung Knie und Hüfte.»

Christian Kryenbühl ergänzt: «Durch die weiche und dicke Zwischensohle werden sowohl die neuromuskuläre Kontrolle und damit auch die Dämpfung durch die körpereigenen Strukturen eingeschränkt. Und weil die neuartige Schuhkonstruktion derart effektiv dämpft, führen die Sportler automatisch eine geringere Kniebeugung in der Standphase aus. Die erhöhte Beinsteifheit führt aber dazu, dass eine stärkere Lastübertragung über die unteren Gliedmassen hinauf in die höhere kinetische Kette einhergeht, ins Becken und in den unteren Rücken.»

Das richtige Mass

Um die Gefahren zu minimieren, plädieren sowohl Hofmann wie Kryenbühl für einen massvollen Einsatz von Karbonschuhen. Unterstützt werden sie von Patrick Noack, dem Chief Medical Officer von Swiss Athletics und Leiter von Medbase Abtwil. «Leider gibt es noch keine guten Studien dazu, doch die Tendenz zeigt dahingehend, die Schuhe nicht dauernd zu nutzen, sondern ergänzend vor allem in qualitativen Lauftrainings zur Gewöhnung und im Wettkampf.»

Wie viel Karbonschuh zu viel ist, und wie viel gerade noch richtig, kann niemand genau sagen, dafür gibt es noch keine aussagekräftigen Daten. Zudem sind sowohl Nutzen wie auch Belastung der Karbonschuhe je nach Laufstil, Unterlage, Tempo, Grösse und Gewicht unterschiedlich. Die Krux an der aktuellen Situation ist: Weil die Muskulatur durch die dicke Sohle geschont wird, kann man mit den Schuhen härter trainieren und erholt sich auch schneller. Gefühlsmässig könnte man sich dadurch verleiten lassen, den Gesamtumfang zu erhöhen. Doch das Gefühl ist bei Karbonschuhen ein schlechter Ratgeber. Die Kräfte auf den Bewegungsapparat wirken auch bei maximalem Laufkomfort, und ob und wann diese Überhand nehmen und eine Verletzung provozieren, ist ein Balance-Tanz auf dem Hochseil. Eine Dosierung im Einsatz ist daher für alle Läuferinnen und Läufer eine gute Empfehlung. Und auch ein gezieltes ergänzendes Athletik-Training mit Kräftigung der Füsse, Beinachsen sowie der Körpermitte macht sicherlich Sinn.

Karbon statt Kondition?

Was mit Blick in die Zukunft des Laufschuhbaus sicher ist: Karbonschuhe werden bleiben und die Technologie wird stetig weiterentwickelt, es gilt daher den passenden Umgang damit zu finden. Breitensportler sollten den Einsatz von Karbonschuhen gut abwägen. Sie laufen automatisch weniger schnell und mit weniger Krafteinsatz als Spitzenläufer, weisen aber meistens eine eher schwache Muskulatur auf und viele landen zudem auf der Ferse. Bei ihnen kann sich der Tempovorteil der Schuhe allenfalls nur minimal auswirken oder sich gar ins Negative umkehren.

Kein Blatt vor den Mund zu diesem Thema nahm der deutsche Marathonläufer Hendrik Pfeiffer (Bestzeit 2:08:48 h) im deutschen Runners World: «Diese Schuhe sind auf Geschwindigkeiten ausgelegt, die deutlich unter vier Minuten pro Kilometer liegen. Wenn man dieses Tempo nicht laufen kann, sind sie eher wacklig. Vor allem schwereren Läufern würde ich abraten: Karbon-Laufschuhe bei 100 Kilogramm Körpergewicht sind Schwachsinn.» Tadesse Abraham sieht das ähnlich: «Jemand, der den Marathon in vier Stunden läuft, braucht ihn meiner Meinung nach nicht – auch wenn das die Marketingabteilung nicht gerne hört. Ich will lieber, dass die Leute gesund bleiben, als dass jemand reich wird.»

Nachhaltigkeit miserabel

Zum Schluss noch ein Blick auf die Nachhaltigkeit: Bei Anschaffungskosten von rund 300 Franken und mehr bei einer Lebensdauer von 200-300 Kilometer oder weniger sind Karbonschuhe nicht nur ökonomischer Unsinn (ausser für die Hersteller), sondern zusätzlich eine ökologische Unsitte, die sich nicht an breiter Front durchsetzen sollte. Obwohl Karbon bis heute als Sondermüll entsorgt werden muss, landen die meisten Schuhe im Müll. Wenn das alle paar Monate geschieht, ist das nicht nur fragwürdig, sondern gleichzeitig auch fahrlässig!

Dieser Text stammt aus dem Magazin FIT for LIFE. Der ganze Artikel zu Karbonschuhen inklusive der Entwicklung der Zwischensohle sowie der Bedeutung der Leisten-Form im Laufschuhbau wurde im Heft Nr. 1/2024 publiziert. FIT for LIFE ist erhältlich am Kiosk oder im Abonnement 8 Ausgaben für 98 Franken.

 

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