Bildquelle: © Andreas Gonseth

Wie eine Gruppe alternder Hobby-Gümmeler ein neues Velo-Monument erschaffen wollte.

Es gibt sie noch, die Ideen, die ganze (Velo)Leben oder zumindest Lebensabschnitte über den Haufen werfen. CG warf sie beiläufig in die Runde. CG ist der Gastero…, äh – Gastrentro… – okay, Füdli-Doc unserer Velogruppe. Wieso ausgerechnet er auf die gloriose Idee kam, verschliesst sich dem Rest der Truppe bis heute, denn normalerweise schaut CG tief in die Gedärme fremder Menschen (und unsere) und weniger in die weite grosse Welt.

Dennoch – er wars, und im Nachhinein kann er durchaus ein bisschen stolz darauf sein, dass er an einem fortgeschrittenen Abend bei einer leidenschaftlichen Diskussion über die Helden der Landstrasse trocken in die Runde warf: «Die Profis fahren Mailand-Sanremo, dann fahren wir doch Meilen-Sanremo.»

Heiteres Lachen. Zwei Schlücke später war das kreative Wortspiel wieder vergessen. Doch die Idee moderte in unseren Hinterköpfen vor sich hin wie feuchtes Stroh in einem schlecht durchlüfteten alten Schober, wochenlang, monatelang, bis sich das Stroh irgendwann selbst entzündet, vorerst nur als leichter Schwelbrand – dann aber lichterloh.

Auch unser Abenteuer-Feuer begann zu lodern und ergriff all jene, die ihren Jahrgang vergessen können und die fehlenden Velokilometer mit Ignoranz und Motivation weglächeln. Und das sind schlussendlich 16 aus unserer seit vielen Jahren bestehenden Midweek-Velo-Männergemeinschaft von gut 20 Senioren zwischen 40 und Ü60 im Raum Zürich.

Mehr (Über)Mut als Muskeln

Um an dieser Stelle potenziellen Nachahmern etwas Mut zu machen: Das durchschnittliche Jahrestotal unserer Truppe liegt bei 2000-5000 Kilometern mit ein, zwei Ausreissern nach oben, man kann also durchaus mit mehr Übermut als Waden-Muskeln ein solches Abenteuer planen.

Um an dieser Stelle potenziellen Nachahmern allfälligen Übermut zu bändigen: Wer mit durchschnittlichen 2000-5000 Jahreskilometern vom Zürichsee nonstop doppelt so weit wie die Profis fahren will, muss schon ein bisschen grössenwahnsinnig oder zumindest übermütig sein.

Oder in Kauf nehmen, dass ein solches Unternehmen auch scheitern kann – und scheitern darf. Oder wie CW die fehlenden Kilometer mit viel Yoga-Erfahrung wegdenken können. Oder wie MM ein geografischer Tiefflieger sein. MM sagte zwar sofort euphorisch zu, dachte aber, das Meer beginne gleich hinter dem Lago Maggiore. Und er vergass, dass zwischen Meilen und Sanremo noch der Gotthard rumsteht.

Der Plan konkretisiert sich

Um die Vorgeschichte rasch abzuschliessen: Irgendwann gibt es kein Halten mehr und noch vor dem Jahresende 2022 bekennen wir uns dazu, im darauffolgenden Sommer von Meilen nach Sanremo zu fahren, nonstop. Damit wir nicht zurückkrebsen können, zeichnet unser kreativer Kopf CW ein stilvolles Trikot mit den furchteinflössenden Eckdaten: Meilen-Sanremo. 586 km. 5200 Hm. Nonstop.

Keine Ausreden – der Plan steht.

Wir veranschlagen 28-29 Stunden (vgl. Info-Box am Schluss). Was natürlich bedeutet: Wir fahren durch die Nacht. Ebenso klar ist: Es soll mehr oder weniger ein ganz normales Wochenende werden, denn zuhause warten Frauen und (Enkel)Kinder: Abfahrt Freitag-Mittag, Ankunft Samstag-Abend, essen, trinken, schlafen, Heimreise im Zug und am Montag wieder frischfröhlich oder weniger frisch, aber fröhlich zur Arbeit. Ein einfacher Plan. Einziger Luxus: Ein Auto soll uns begleiten für allfällige Pleiten, Pech und Pannen.

Hitziger Start mit Folgen

So stehen Mitte Juli am gefühlt heissesten Tag des Jahres 14 Unentwegte bei der Fähre in Meilen, denn unvernünftigerweise gab es nur zwei Abmeldungen, davon eine unfallbedingt. 14 bestandene Männer, die sich gegenseitig Zuversicht einbläuen, aber gleichzeitig tief im Inneren von Zweifeln geplagt sind, ob das wirklich eine schlaue Idee ist.

Die ersten 20 Minuten sind super-easy, eine leichte Brise weht um unsere Köpfe und es fühlt sich ein bisschen an wie Ferien – wir stehen auf der Fähre nach Horgen. Dies ganz simpel deshalb, weil ohne Meilen als Startort unsere Anlehnung an den Klassiker Mailand-Sanremo nicht möglich ist. Und Horgen-Sanremo tönt extrem uncool.

Wir steigen auf die Räder und über Hirzel, Zugersee, Axenstrasse, Brunnen gehts nach Erstfeld und hoch in Richtung Göschenen. Spätestens da fragen sich die ersten, warum sich Meilen nicht im Tessin befindet. Die Strasse flirrt, die Hitze drückt und der Ferienverkehr auf der Gotthardstrasse ist unangenehm dicht. Nix von wegen Einsamkeit des Langstreckenfahrers.

So lupft es in Hospental bereits zweien den Helm. PF verspürte schon in den letzten Tagen eine ungute Vorahnung, und PD muss komplett erschöpft aufgeben, weil in der Vorbereitung doch zu viele Trainingskilometer fehlten, um sie mit Zuversicht und Vorfreude kompensieren zu können. Beide kehren um mit dem Plan, in Göschenen in den Zug zu steigen und den Rest in Airolo zum Znacht zu treffen.

Wir übrigen 12 kommen zügig voran und ab halb acht wird in Airolo wie geplant die Pasta aufgetischt. Eine Stunde Pause ist angesagt.

Brütend heisse Axenstrasse.

Das erste Drittel ist geschafft: Pasta-Plausch in Airolo.

Die Stille der Nacht

PF und PD verabschieden sich und fahren mit dem Zug nach Hause, der Rest montiert die Lichter – und weiter gehts. In Bellinzona ist es schon dunkel. Wir freuen uns auf die Nacht. Wir haben in früheren Jahren schon zweimal eine Nacht durchfahren, und jedes Mal war es ein wunderschönes und meditatives Erlebnis. So auch diesmal. Gleich nach Bellinzona werden wir allerdings noch von der Polizei aufgehalten, weil wir unerlaubterweise auf der Schnellstrasse fahren. Als wir erklären, was wir vorhaben, spannen sie sich kurzerhand als Eskorte vor uns und führen uns fürsorglich auf den Pfad der Tugend zurück.

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Der nächste Stopp ist Luino. Zwischenverpflegung aus dem Bus. MS durchbricht aufgeregt die Stille. «So können wir nicht weiterfahren!» Sein brandneues «keine-Ahnung-wieso-ich-mich-zu-diesem-Seich-habe-überreden-lassen-ich-will-nach-Hause-Wetter-App» warnt mit tiefroten Farben vor einem aufkommenden Sturm mit Orkan und Hagel. Bei allen anderen stehen die App-Farben auf Grün – wir fahren weiter.

Auch FM kann sich nicht so recht mit dem Dunkel der Nacht anfreunden: «Kann mir einer sagen, wieso wir nicht wie alle normalen Menschen in der Nacht schlafen?» Eine vernünftige Antwort können wir nicht geben oder höchstens die Binsenweisheit, dass man bei einem solchen Unterfangen immer an schöne Sachen denken soll und negative Gedanken der Anfang vom Untergang sind.

Ganz unten beim Lago Maggiore beginnt es leicht zu tröpfeln, aber der Sturm bleibt aus. Schon 260 km, die Po-Ebene steht bevor. Die Stunden bis zur Morgendämmerung vergehen im Flug. Auf dem Veloweg dem Ticino entlang fahren wir nebeneinander, plaudern oder schweigen, wir sind bestens im Plan.

Fliegender Zwischenhalt in Luino.

Meditative Stille auf dem Veloweg.

Unendliche Po-Ebene

Mit der Dämmerung aber beginnt es zu harzen. Die Freinacht fordert einen kurzfristigen Stretching-Yoga-Powernap-Stopp. Auch die folgende geplante Pause mit Kaffee und Gipfeli wird etwas länger als geplant, das Aufstehen ist nicht mehr ganz geschmeidig und auch das Aufsitzen wird von Stöhngeräuschen begleitet. MS sieht zwar mittlerweile wieder Grün in seinem App, dafür droht akut der Schlaf-Hammermann und er muss sich für 20 Minuten hinlegen. Wir warten sebstverständlich und trinken einen weiteren Kaffee.

Stretch-Yoga für Ultra-Velofahrer.

Power-Nap total.

Ein Helm für alles.

Zähe Po-Ebene.

Wie auf dem Bau: Zwei arbeiten, der Rest schaut zu.

Danach nehmen wir wieder Fahrt auf. Nach der angenehmen Frische der Nacht klettern die Temperaturen unerwartet rasch in Richtung 30 Grad und darüber. Die letzten 100 Kilometer in der Po-Ebene sind zäh, langweilig und zermürbend, zumal bei FM nach einem platten Hinterradreifen plötzlich das Ritzelpaket auf die Strasse fällt. Kurze Hektik, doch MM löst das Problem souverän und macht das Velo wieder flott.

Dennoch fordert der nächste Stopp in Acqui-Terme zwei Opfer. «Weichgekocht wie ein Ei», vermeldet FM, «ich steig in den Bus». Und auch MS resigniert aus einer Mischung von unendlicher Müdigkeit und aufkommender Sinnkrise.

Die Truppe schrumpft

Da sind wir nur noch zehn. Das Gute an unserer Truppe ist: Alles hat Platz. Wir verströmen zwar unerträglichen Optimismus, aber zwängen ihn nicht durch. Wer genug hat, hat genug – und darf genug haben, es gibt kein Scheitern und auch keine Rangliste. Wir alle wissen: Alles kann allen passieren. Und festzuhalten gilt: In Acqui-Terme sind wir bereits 480 km unterwegs, nonstop, ohne Schlaf – eine Riesenleistung!

Der Begleitbus füllt sich, die Schrumpftruppe setzt sich wieder in Bewegung. Nach der Langeweile des letzten Po-Abschnitts sind wir froh, dass wieder abwechslungsreiches Gelände bevorsteht, es geht wellig hoch ins ligurische Bergdorf Sassello. Kurz vor der Abfahrt ans Meer ist hier noch einmal ein längerer Stopp mit Mittagessen geplant. Der Appetit hält sich aber stark in Grenzen, unsere Mägen sind ob der bislang 24-stündigen Nonstop-Fahrt schon arg geplagt. Und überhaupt zwickt es überall, die Füsse kribbeln, die Handballen sind gefühllos, feinfühlig und schmerzhaft hingegen ist der Hintern, ein Hoch auf eine gute Füdlicreme. Bei SV kommt noch das Knie dazu, und zwar derart stark, dass es keinen Sinn macht, damit noch weiterzufahren. So sind wir noch neun.

«Nur noch gut 100 km», versucht AG zu motivieren. «Das habt ihr schon vor 100 km gesagt», reagiert SR wütend. Mit gutem Zureden lässt er sich beruhigen und wir fahren weiter, doch nach der kurzen und schnellen Abfahrt ans Meer lässt die plötzliche Verkehrs- und Ferien-Hektik der Ligurischen Küste seine Anspannung erneut explodieren. Nach einem Rencontre mit einem italienischen Kleinlasterfahrer hören wir ihn laut etwas rufen, das ähnlich tönt wie Gipfeli auf Italienisch – und plötzlich ist er nicht mehr da. Am Handy keine Antwort – wir warten. Hat er die Nerven verloren? Dann endlich meldet er sich wieder, nun bereits einige Kilometer vor uns. Noch 70 km.

Endlich der Veloweg: Noch 50 km bis Sanremo.

Warten auf den Veloweg

«Wann kommt denn endlich der Veloweg, von dem alle geschwärmt haben?», lautet die nächste schwierige Frage. Er sollte schon lange da sein. Ein genauer Blick auf die Karte bringt Klarheit. Nach Imperia wurde in den letzten Jahren auf dem alten Zug-Trassee ein wunderschöner Veloweg bis Sanremo gebaut mit fantastischen Ausblicken aufs Meer. Noch ist es aber nicht so weit, Imperia kommt erst in 20 km.

Das Spiessroutenfahren durch alle ligurischen Dörfer, eine Million Vespas und zwei Millionen Touristen mit Luftmatratzen und Gummi-Enten nimmt kein Ende, jeder einzelne Kilometer zieht sich endlos dahin, doch dann endlich kommt der Veloweg – und das Ziel ist verführerisch nah – noch 50 km.

Endlich wieder Ruhe und freie Fahrt, die Vorfreude auf die Einfahrt in Sanremo und ein kaltes Bier werden grösser und wir immer schneller. Die letzten Kilometer geht es leicht bergab und mit den Endorphinen in allen Ecken und Enden unserer geschundenen Körper fliegen wir pfeilschnell nach Sanremo herunter.

Als wir gegen halb acht das Ortsschild passieren, warten die anderen in der Bar direkt neben dem Veloweg. Freudenschreie, Umarmungen, Stolz, unendliche Erschöpfung – wir haben es geschafft.

In der Gruppe geht enorm viel, wenn man will. Aber man muss schon wirklich, wirklich, wirklich wollen – und das nächste Mal muss es ja kein Wortspiel mehr sein…

Geschafft: Nur nicht loslassen, sonst fallen sie um!

Meilen-Sanremo: Die wichtigsten Eckdaten

  • Wir planten mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 25 km/h (das ist in der Gruppe durchaus realistisch).
  • Die reine Fahrzeit veranschlagten wir so auf rund 24 Stunden. Dazu zwei einstündige Essenspausen, alle zwei Stunden 10 Minuten Kurzpause plus einen Puffer für Defekte, insgesamt also rund 4-5 Stunden Pause. Macht 28-29 Stunden total.
  • Weil wir am Samstag zeitig zum Abendessen in Sanremo sein wollten, planten wir den Start in Meilen kurz nach Mittag.
  • Äusserst hilfreich ist ein Begleitauto für den Gepäcktransport und die Verpflegung unterwegs. Wir organisierten das Begleitauto so, dass es rund alle 3-4 Stunden zur Verfügung stand. Wichtig: Unbedingt zwei Fahrer mobilisieren, damit sie zu etwas Schlaf kommen.
  • Unsere Planung war schlussendlich etwas zu optimistisch, wir benötigten knapp 31 Stunden bis Sanremo.

Für alle, die nicht alle Schnapsideen gleich in den Wind schlagen: Hier ist die genaue Route inkl. GPX-Track

Und hier die Route in einer Animation mit Bildern

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