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«Velofaul» sei sie gewesen, sagt Eleonora Balbi. Doch eine verlorene Wette macht die Neuropsychologie-Studentin zur Veloabenteurerin und Rennfahrerin. Ihr Blitzstart in die unsupported Gravelrennszene bringt ihr Erfolg, Follower und Sponsoren. Aber auch Gedanken zu Sinn und Unsinn.

Text: Simon Joller

Der Tacho zeigt 70 km/h. Eleonora Balbi bremst, doch sie wird immer schneller. Wieder und wieder zieht sie an den Bremshebeln. Keine Wirkung. Links die Felswand, rechts ein steiniger Abgrund. Was tun auf dieser immer schneller werdenden Schussfahrt hinunter vom höchsten Berg des Oman? Ist das schon das Ende ihres allerersten unsupported Velorennens? Diese Rennen, die über hunderte, manchmal tausende von Kilometern führen, oft auf unwegsamen Routen, und eben unsupported, also ohne Unterstützung von Betreuern, ohne Verpflegungs- oder Samariterposten. Rennen, die dank ihres Abenteuercharakters immer populärer werden.

Später wird sie wissen: Sie hat durch das Dauerbremsen die Scheibenbremsen ihres mit Taschen beladenen Bikes überhitzt. Ein typischer Anfängerfehler. Doch wie kann sie jetzt das Schlimmste abwenden? Ihre Optionen: Links in die Felswand steuern, den harten Aufprall riskieren. Oder rechts in – und dann wohl über – die Leitplanken fliegen. Was dahinter liegt, kann sie nicht sehen. Trotzdem scheint ihr die Talseite die Option mit offenerem Ausgang zu sein. Sie zieht nach rechts. Und wird über die Leitplanke geschleudert.

Vier Jahre später hat Eleonora Balbi Podestplätze und Siege bei solchen Rennen gesammelt. Obwohl sie sagt, das Podest habe sie nie interessiert. Sie hat die abenteuerlichsten Radreisen hinter sich, besitzt aber immer noch nur zwei Radtrikots und drei Radhosen. Sie hat über ihre Postings in den Sozialen Medien andere Frauen zu Veloabenteuern motiviert und sogar Sponsoren gewonnen. Und hat doch alles wieder auf den Kopf gestellt. Sich hinterfragt, die Freude vermisst – und die Freude wieder gefunden. Auch in japanischen Toilettenanlagen. Geschichten, welche ein ganzes Radfahrerleben beschreiben könnten. Eleonora Balbi hat das alles in wenige Jahre destilliert.

Startschuss mit 300-Franken-Velo

Noch 2018 ist sie Neuropsychologie-Studentin in Bern und, wie sie es nennt: «velofaul». Selbst für die Kurzdistanz vom Aussenquartier Bethlehem zur Uni nimmt sie den Bus. Auch auf Reisen nutzt sie den öffentlichen Verkehr. Umso beeindruckter ist sie, als sie auf einer Rucksackreise durch Zentralasien einen Franzosen trifft, der in sechs Monaten zu Fuss von Paris nach Kirgisien gewandert ist.

«So weit will ich auch Mal kommen», sagt sie sich. Aber solange unterwegs sein dafür? Ist das Fahrrad die Zeitmaschine, mit der sie solche Abenteuerreisen in weniger Zeit schaffen könnte? Es bleibt vorerst beim Gedankenspiel, denn ihre Zweifel sind stärker. Sie denkt Dinge wie: «Ich kann ja nicht mal einen platten Reifen flicken.»

Erst ein Abend mit einer Studienkollegin besiegelt den Einstieg in die Welt der Veloabenteurerinnen. Die beiden wollen ein Studienprojekt besprechen. Doch nach zwei Flaschen Wein und einer verlorenen Wette gibt es keine Ausreden mehr. Balbis Wetteinsatz: Die Anmeldung zum Alpenbrevet, einem der grössten Radmarathons der Schweiz.

Sie kauft sich ein 300 Franken günstiges Occasionsvelo. Gleich ihre erste Ausfahrt ist 90 Kilometer lang und führt über den anspruchsvollen Voralpenpass Gurnigel. Sie hat sich falsch angezogen, friert erbärmlich. Doch wieder zu Hause, macht sich ein gutes Gefühl breit und der Gedanke: «Hey, ich kann auf dem Velo alles schaffen.»

Wäre es nur so einfach. Auf einer nächsten Ausfahrt hat sie einen Plattfuss, zwei Kilometer von Zuhause entfernt. Dort wartet ihr Ex-Freund, ein Radfahrer. Seit zwei Wochen sind sie getrennt. Sie fragt, ob er ihr beim Flicken helfe. Aus einem Mix aus «wieso soll ich noch» und «ich meine es doch nur gut» sagt er: nein! 40 Minuten versucht sie es vergebens. Er fläzt daneben auf dem Sofa und gibt Anweisungen. Sie müsse das selbst lernen. Sie heult, er erbarmt sich – und behebt die Panne.

Aber eben: Sie will es selbst schaffen, löst auf der 120 Kilometer-Runde des Alpenbrevets ihre Wettschuld ein, kauft ein Cyclocross-Velo und startet im folgenden Winter bei Radquer-Rennen. Dort trifft sie einen Kollegen, der vom «Bikingman Oman» erzählt. 1000 Kilometer nonstop. Man müsse einfach nur treten, sagt er, das schaffe sie. Von Bremsen war nicht die Rede. Sie hat zwei Monate bis zum Start. In der Woche vor dem Rennen fährt sie in Bern von Velokollege zu Velokollege, muss sich alles Material ausleihen. Gepäcktaschen und Aeroaufsatz machen aus ihrem Cyclocross- ein Bikepacking-Velo.

Tränen im Wüstenstaub

Und schon steht sie im Oman am Start. Nach 300 Kilometern wartet der Jebel Shams. 25 Kilometer Aufstieg – und auf derselben Strasse alles wieder hinunter. Es ist die Abfahrt, auf der ihre Bremsen versagen und sie sich für den Abflug über die Leitplanke entscheidet. Sie fällt, rutscht und rollt. Hinter der Leitplanke fällt der Berg zu ihrem Glück nicht zu steil ab. Nach 10 Metern liegt sie still im Staub. Tränen fliessen. Sie inspiziert ihr Rad, der Sattel hängt schräg, eine Strebe ist gebrochen, die Gabel wackelt im Steuersatz, der Rennlenker ist verbogen. Was tun? Sie greift zum Smartphone. Kein Empfang. Weiterfahren ist ihre einzige Option.

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Nach drei Stunden Fahrt endlich eine Tankstelle. Sie spürt nun ihren überall schmerzenden Körper. Soll sie aufgeben? Den Bus nehmen, ein Taxi? Als Studentin ist sie chronisch knapp bei Kasse, wählt darum die kostenlose Variante: Weiterfahren. Sie versucht noch, das zerbrochene Sattelgestell mit Ästen und Tape zu flicken. Doch das gibt sie bald auf, sie sagt sich: «Je länger ich bastle, umso länger dauert es, bis ich im Ziel bin.» Und sowieso machen die Schmerzen den schrägen Sattel bald vergessen. Nach 75 Stunden schafft sie es als Vierte ins Ziel. Überquellende Emotionen nach ihrem ersten Rennen hat sie nicht, sie geht einfach schlafen. Und meldet sich am Tag danach für ein nächstes Rennen an. Und danach für ein weiteres, und noch eins…

Rückzug aus der Scheinwelt

Obwohl sie neu ist in dieser Rennszene, gehört sie bald zu den Schnellsten. Beim Race Around Rwanda wäre sie schnellste Frau, aber es gibt keine getrennte Rangliste. In den Folgejahren gibt es diese. Doch Eleonora Balbi weiss nicht, ob sie das gut finden soll. Ist es nicht ein Schritt zurück, dieses Denken in Geschlechtern? Und schliesslich sind auf den Ultradistanzen immer wieder Frauen schneller als Männer. Neben ihrem Talent hilft, dass sie immer Sport gemacht hat.

Ihre Erlebnisse, nie aber ihre Ergebnisse, teilt sie fleissig auf Instagramm. Immer mehr folgen ihr über die Jahre auf den Sozialen Medien. Sie zieht Motivation aus den Kommentaren. Sponsoren unterstützen sie. Eleonora Balbi hat das Zeugs zur Bike-Influencerin. Doch immer öfter vermisst sie die Freude im Sattel, beginnt sich zu hinterfragen. Ist Sponsoring nicht irgendwie korrupt? Was haben meine Followerinnen von meinen Beiträgen? Ist die Realität nicht unattraktiver als diese Scheinwelt? Sie wird weniger aktiv. Und merkt, dass sie mehr Spass hat am Velofahren, wenn sie nicht ständig an die nächste Story denken muss. Ihre Influencer-Karriere verliert an Schwung, bevor sie richtig Fahrt aufgenommen hat.

Ein Jahr, nachdem sich die «velofaule» Studentin in die Welt der Ultrarennen gestürzt hat, lässt sie das Studium ruhen und nimmt sich für ihre Veloleidenschaft eine Auszeit. Sie besorgt sich ein Tourenrad und fährt los Richtung Osten. Weil es in diese Richtung günstiger ist. Und weil weit im Osten ein nächster Unsupported-Event stattfinden wird, die 2500 Kilometer lange «Japanese Odyssey».

Frittierter Fisch zum Frühstück

Doch zuerst erfolgt der Start hinaus aus der Schweiz. Sie schläft allein im Zelt. Wie wunderbar sehen doch die Plätze immer aus, an denen Influencer ihre Zelte aufschlagen. Ihre Realität ist eine andere. Oft keine Spur von Romantik. Und die ersten Wochen im Zelt sind sowieso schlaflos. Sie denkt ohne Unterbruch, bald komme jemand und wolle ihr böse. Nach vier Wochen endlich hat sie sich an die exponierten Nächte gewöhnt und schläft tief und fest. Es gibt zwar auch dann noch Momente, in denen ihr Herz pocht, weil sie vor dem Zelt Stimmen hört. Doch es passiert nie etwas. Im Gegenteil.

Unvergesslich bleiben wunderschöne Begegnungen. In Serbien findet sie am Abend keinen sicheren Schlafplatz, es ist 20 Uhr und wird dunkel. Sie klingelt bei einem Haus mit Garten, fragt nach einem Plätzchen für ihr Zelt. Niemand versteht sie, aber irgendwie kriegt sie den Platz. Und obendrein ein üppiges Nachtessen.

Um sechs in der Früh wacht sie auf, geweckt vom Lärm, den die Hausherrin veranstaltet. Diese ist draussen am Frühstück zubereiten, weil sie im Haus keinen Herd, geschweige denn eine Küche hat. Es gibt Reis, Gurken und frittierten Fisch. Eleonora Balbi fragt sich: «Wenn bei mir jemand vorbei kommt am Abend, ich verstehe ihn nicht, begreife aber, dass er bei mir übernachten will, würde ich ihn wohl einlassen?» Die Offenheit und Grosszügigkeit berühren sie. Es sind Erinnerungen fürs Leben.

Im Herbst dann das Rennen in Japan. Es wird der Wettkampf werden, der ihr so viel Spass macht wie kein anderer. Und eine Veränderung in ihrem Leben als Rennfahrerin einleitet. Denn die «Japanese Odyssey» ist ein Rennen, und eben doch kein Rennen. Das Ziel ist das Ziel, Rangliste gibt es keine. Die Teilnehmenden wählen die Strecke zwischen den Checkpoints selbst, müssen nicht zwingend allein fahren.

Bedingung ist einzig, dass sie die rund 2500 Kilometer in 12 Tagen und «unsupported» schaffen. Was sich zuerst seltsam anfühlt, wird bald zur tiefen Befriedigung. Eleonora Balbi schwärmt: «Ein Anlass, bei dem man die Motivation aus sich selbst holen muss, sich intensiv mit sich selbst beschäftigt. Und dann dieses Zwischenmenschliche, für das viel Zeit bleibt.» Ähnlich, wie sie es auf Velotouren erlebt.

Schlafzimmer in den Toiletten

Ein Einheimischer öffnet ihr und einem Kollegen nach stundenlanger Fahrt im kalten Regen sein eigentlich geschlossenes Onsen, wie in Japan heisse, traditionelle Bäder heissen. Im Fahrradladen darf sie nichts zahlen für die Reparatur und wird stattdessen mit Tee verwöhnt. Und wenn niemand zum Helfen da ist, dann helfen die öffentlichen Toiletten. Die sind so sauber und geräumig, dass Eleonora Balbi sie zum Schlafzimmer machen kann. Im Ziel dann: Nichts. Dafür treffen sich am 13. Tag alle Teilnehmenden. Doch niemand redet über das «Rennen». Das hat jeder nur gegen und für sich selbst gefahren. Es ist wohl nicht nur Zufall, dass Eleonora Balbi ausgerechnet hier ihren neuen Partner kennenlernt.

Das prägende Erlebnis in Japan zieht Eleonora Balbi immer öfter weg von Rennen hin zu Abenteuern. Unsupported-Rennen wechseln sich ab mit Abenteuertouren. Rennen sei sie nie gefahren, weil sie gewinnen wollte, sagt sie heute. Sie wollte sich selbst überwinden, ihre Grenzen suchen. Dass immer mehr Rennen respektive Events mittlerweile genau das bieten möchten, kommt ihr entgegen. Es sind Anlässe wie Dead Ends & Dolci in der Schweiz, die sie nun fährt.

Und weil sie auch heute noch auf der Suche nach ihren Grenzen ist, will sie in Zukunft versuchen, Gleitschirmfliegen und Mountainbiken zu verknüpfen. Will den Berg hoch mit dem Bike, den Schirm am Rücken, ins Tal zurück am Schirm, das Bike dabei. Wie genau das gehen soll? Das weiss sie noch nicht. Wüsste sie es, würde es sie wohl nicht so sehr reizen.

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