Mysteriöse Knoten, gezückte Mittelfinger, rohe Rösti und sexy Warmup-Tänze: Rituale und Aberglaube sind im Leistungssport weit verbreitet.
Die meisten tun es, die wenigsten sprechen darüber. Viele haben schon in der Jugend damit begonnen und bleiben ihr ganzes Leben dabei. Andere haben all dem abgeschworen und sind dann, mit einer anderen Variante, doch wieder rückfällig geworden. Nein, wir reden hier nicht von gewissen leistungssteigernden Mittelchen (obwohl das mit der Leistungssteigerung durchaus im Zusammenhang steht), sondern von Profanem, das mitunter als «mystisch» missverstanden wird: Rituale im Sport.
«Ka mate! Ka mate!» Wenn der Schlachtruf der neuseeländischen Maoris ertönt, etwa vor einem Rugbyspiel oder vor dem Start zum Ironman New Zealand, dann läuft es selbst Hartgesottenen kalt und heiss gleichzeitig über den Rücken. Das Tanzritual «Ka Mate Haka», diese Mischung aus grossspurigen Gesten, furchteinflössenden Grimassen und lautstark gebrüllten, testosterongeschwängerten Hinweisen auf die eigene Kraft und Ausdauer, soll nicht nur dem Gegner zeigen, wo der Hammer hängt, sondern den Athleten Selbstvertrauen und Mut einflössen. Ein Ritual, das viele neuseeländische Sportler kaum mehr missen möchten – nicht zuletzt, weil Statistiken zeigen, dass die wenigen Wettkämpfe und Spiele, vor denen der «Ka Mate Haka» nicht aufgeführt wurde, meist verloren wurden.
Auch wenn dieses Teamritual in unseren Breitengraden besonders «exotisch» erscheinen mag, ist es nur eine kleine Randnotiz im grossen Reigen individueller Sportrituale. Einige der Soziologen und Psychologen, die sich mit dem Thema intensiv befasst haben, sagen, es gäbe fast so viele Rituale wie Sportler. Deren Differenzierung liege wie immer im Detail, respektive in deren Wahrnehmung. Zumindest zwei gemeinsame Nenner haben sie jedoch alle: Die ausführenden Sportlerinnen und Sportler sind überzeugt von der Notwendigkeit und Wirksamkeit ihrer Rituale – bewusst oder unbewusst. Und sie reden nur ungern darüber.
Start verpasst wegen Kaffee
Die Bandbreite des «wiederholten, immer gleichbleibenden, regelmässigen Vorgehens nach einer festgelegten Ordnung» (Duden für Ritual) im Sport ist beeindruckend. Von «normal» anmutenden Ritualen bis hin zu extrem Skurrilem, hart an der Grenze zur Besessenheit, ist alles dabei. Ein hastiges Bekreuzigen, kurzzeitiges Innehalten oder ein flehender Blick in Richtung Himmel kurz vor einem Start – zu welcher Sportart auch immer – ist allgemein akzeptiert.
Geläufig sind auch kleine Rituale: Fussballer Granit Xhaka setzt bei einem Spiel immer zuerst den rechten Fuss auf den Rasen, wenn er diesen betritt. Sein Nati-Kollege Remo Freuler zieht in der Kabine immer den rechten Schuh zuerst an. Und Goalie Jan Sommer berührt vor dem Anpfiff zuerst die beiden Torpfosten und dann die Latte. Xherdan Shaqiri öffnet nach islamischen Brauch seine Arme, um dann die Hände ins Gesicht zu legen.
Etwas seltsamer mutet vielleicht der «Wettkampfknoten» auf Laufschuhen an: Einige Marathonläufer zelebrieren diesen – der keine gewöhnliche «Schleife» sein darf – immer nur vor einem wichtigen Rennen. Zum Training werden die Laufschuhe normal gebunden.
Andere hören vor dem Start immer das gleiche Musikstück, ziehen sich abergläubisch zuerst den Herzseite-Schuh an (also den linken, weil im Herzen angeblich die Emotionen schlummern), und für viele zählen bestimmte Gaumenfreuden zum dringend notwendigen Ritual vor, bei oder nach einem Rennen.
So hat etwa Radrennfahrer Marcus Burghardt, Tour-de-France-Etappensieger und amtierender deutscher Meister auf der Strasse, schon Starts zu wichtigen Rennen verpasst, weil sein Ritual eine kurz vor dem Rennen getrunkene Tasse Kaffee ist. Immer in aller Ruhe, genüsslich und selbstvergessen – zum Glück starten Strassenrennen in der Regel mit verhaltener Geschwindigkeit, so dass Burghardt meistens rasch wieder zum Team aufschliessen kann.
Stinkende und nasse Socken
Apropos aufschliessen. Kolo Touré, sehr erfolgreicher ivorischer Fussballspieler, trieb seine Mannschaftskameraden mit seinem Ritual mitunter an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Der Mittelstürmer kam grundsätzlich aus Aberglaube als letzter Spieler seines Teams aufs Fussballfeld. Als einmal ein verletzter Kollege zu Beginn der zweiten Halbzeit noch in der Umkleidekabine weiterbehandelt wurde, mussten die Liverpooler mit nur neun Mann aufspielen, weil Touré unmöglich sein Ritual unterlassen konnte – das Team kassierte ein Gegentor und Touré die Gelbe Karte.
Die meisten (bekannten) Rituale im Sport wirken sich jedoch vorwiegend auf die ausführende Person aus. Tennisspielerin Serena Williams zum Beispiel wechselt vom ersten bis zum letzten Spiel eines Turniers niemals ihre Socken. In frischen hatte sie einst ihr erstes Grand Slam-Endspiel verloren. Ähnlich sockenfixiert gibt sich Laura Kenny. Die britische Bahnradsportlerin, immerhin mehrfache Olympiasiegerin und Weltmeisterin, hatte vor Jahren die Junioren-WM mit einer nassen Socke gewonnen. Seitdem stellt sie sich vor jedem Rennen in Socken auf ein nasses Handtuch. Mit Erfolg, versteht sich.
Phelps, Nadal, Bolt
Auch Schwimmer sind häufig auf Rituale «gepolt». Selbst Superstars wie Michael Phelps (Rekordschwimmer und Olympionike) kamen nicht ohne aus: Betrat er die Schwimmhalle, hörte er garantiert Musik über seine überdimensionierten Kopfhörer (meist Eminem). Auf dem Startblock, Sekunden vor dem Start, dann das weltbekannte, immer wiederkehrende «Flipflap» seiner gewaltigen Arme. Keine Lockerung seiner Gelenke, sondern eine Art «rasches Gebet an seine ganz persönliche Glücksgöttin», wie er in einem Interview erklärte.
Etwas verstörend kann die ritualisierte Geste des kanadischen Schwimmers Santo Condorelli wirken: Er zeigt bei grossen Rennen grundsätzlich seinem Vater, der im Publikum sitzt, den Mittelfinger. Eine Geste, die er seit seinem neunten Lebensjahr mit seinem Daddy austauscht und die – einmal nicht ausgeführt – ihn «in todsicheres Unglück stürzen» würde. Immer funktioniert der Fingerzeig aber nicht: In Rio verpasste Condorelli über 100 m Freistil Bronze wegen der Winzigkeit von sieben Hundertstelsekunden.
Rafael Nadal hat ein ganzes Sortiment von Ticks
Fast schon wie ein Tick wirkt Rafael Nadals Auftritt mit Wasserflaschen auf dem Tennis Court. Er stellt sie akribisch in einer Reihe auf, mit dem Etikett in Richtung Court. Für die Balljungen eine prekäre Aufgabe: Fällt einmal eine Flasche durch einen gegnerischen Ball um, sollte sie unbedingt exakt ausgerichtet wieder an ihren Platz gestellt werden.
Und fast schon autistisch kommt Nadal mit seinem Linienritual an: Er betritt nie die weisse Linie und überschreitet sie immer mit dem rechten Fuss voran. Auch im Spiel gehts nicht ohne Ticks und Macken: In den kurzen Pausen vor einem Aufschlag oder Return kommt nach dem obligaten Hosenzwicker der T-Shirt-Check. Erst zupft Nadal das Leibchen links und dann rechts zurecht. Dann folgt die Links-rechts-Kombination an Nase, linkes Ohr, Nase und schliesslich ans rechte Ohr. Nadals stark ritualisierte Abläufe helfen ihm laut eigenen Aussagen, seine Konzentration für das Spiel auf ein Maximum zu steigern.
Die Leichtathleten scheinen dagegen mit ihren Ritualen eher leib- und seelenorientiert zu sein. Sprintstar Florence Griffith-Joyner gab sich in den Achtzigerjahren gern als Diva. Die Pflege ihrer fünfzehn und mehr Zentimeter langen Fingernägel war jedoch auch ein Ritual, das unbedingt eingehalten werden musste. Dies zeigte sich spätestens, als kurz vor einem wichtigen Rennen ein Nagel abbrach. Ein Start erschien Griffith-Joyner daraufhin unmöglich – sie sagte ihre Teilnahme kurzerhand ab!
Bei Usain Bolt, immerhin schnellster Mann der Geschichte und bekannt für seine eher lockere Art im Umgang mit Trainingsplänen und Diäten, stand grundsätzlich vor jedem wichtigen Rennen ein Besuch bei MacDonald auf dem Programm. Dort ass er bevorzugt Wraps – man hat ihn aber auch schon mit Big Macs «erwischt». Angesprochen darauf, ob das eher wilde Gelüste seien oder ein Ritual, antwortete er in einem Interview: «Das gehört dazu wie die Sohlen zu den Schuhen. Ohne läuft es sich einfach schlechter!»
Rösti und Käsebrot
Bleiben wir noch etwas bei den Läufern. Der Schweizer Olympia Silbermedaillengewinner Markus Ryffel war bekannt für sein Ernährungsritual: Als letzten Snack vor dem Rennen nahm er – nein, keinen Energieriegel (die gab es damals noch gar nicht), sondern ein Schinkensandwich zu sich. Was allerdings für den Metzgersohn weniger mit Hunger zu tun hatte als eher mit dem festen Glauben daran, dass es «ohne» nicht laufen würde. 1973 hatte es für den jungen Läufer beim ersten Leichtathletik-Meeting im Zürcher Letzigrund statt Mittagessen nur zu einem Schinken-Sandwich gereicht. Das brachte ihm Glück – Ryffel lief Junioren-Europarekord – und die Vorbereitung dazu sollte seitdem ritualisierter Standard bleiben.
Auch Marathonläufer Viktor Röthlin bestand darauf, am Vortag eines jeden wichtigen Rennens eine «rohe Rösti» zu futtern. «Ohne» ging er nur mit gemischten Gefühlen an den Start – «mit» Rösti im Bauch hingegen nahm er ein Stück Heimat auf die Strecke. «Mein Mami hat zu Hause die Rösti immer aus rohen und nicht aus geschwellten Kartoffeln gekocht. Seither habe ich Rösti nach Mamis Art halt einfach am liebsten», begründete Röthlin seine Vorliebe.
Dass frau mit einem Ritual nicht nur ihrer Sportkarriere einen Anstoss geben kann, zeigte sich bei der jungen australischen Hürdenläuferin Michelle Jenneke (Silbermedaille bei den Summer Youth Olympics 2010 und australische Meisterin 2016 über 100 m Hürden). Jenneke versetzte sich mit ihrem sexy-frischen «Warmup»-Ritual nicht nur in den Wettkampfmodus, sondern sie zog damit auch die Aufmerksamkeit von Millionen Leichtathletik-Fans auf sich. Nachdem ihr ritueller Tanz ein millionenfach genossener Youtube-Hit geworden war, erhielt sie zahlreiche Fernseh-, Shooting- und Showangebote, die ihr eine Menge Geld einbrachten: «mehr als ich jemals mit dem Hürdenlauf verdienen könnte», wie sie klarstellte. Womit sie eine der ganz wenigen Sportlerinnen sein dürfte, die mit einem Ritual auch finanziell weitergekommen ist.
Man muss dran glauben
Selbst wenn manche der genannten Beispiele die Vermutung nahelegen, sind Rituale keineswegs zur Belustigung der Umwelt gedacht. Ganz im Gegenteil: Rituale sind Bestandteil eines tiefen Glaubens an die Kraft und Macht des Unbewussten. Im Prinzip fallen Rituale unter die Kategorie mentales Training. Unbekanntes oder nur schlecht Einschätzbares sollen durch eine Art beschwörende und ritualisierte Handlung positiv beeinflusst werden. Oder anders formuliert: Man muss vor allem daran glauben, damit es klappt. Die vielleicht wichtigsten, eigentlich von jedem persönlich nachvollziehbaren Effekte eines Rituals sind Zuversicht, Selbstvertrauen, Konzentration, Fokussierung und Stressreduktion.
Das wissen und fühlen alle Sportler, die selbst ein Ritual durchführen. Alle anderen können es sich zumindest vorstellen. Nehmen wir als Beispiel den erwähnten Wettkampfknoten auf Laufschuhen, der nur für wichtige Rennen gebunden wird. Im Moment, da man den (erdbebensicheren) Knoten knüpft, kommt man automatisch in den speziellen Wettkampfmodus. Man konzentriert sich auf das, was folgen wird, stimmt sich unterbewusst auf das Rennen ein. Gleichzeitig macht sich (hoffentlich) durch das Ritual die Gewissheit breit, dass man gut vorbereitet ist.
Es folgen Zuversicht und eine Art «Placebo»-Effekt, mit dem «schon alles gutgehen wird». Vor allem aber: Die Zweifel am Gelingen werden geringer. Unsere Gedanken überlisten sich selbst, indem sie sich mit Positivem beschäftigen, dem Negativen und Zweifel aber kaum noch Platz einräumen. Wenn sich Sportpsychologen in einem Punkt einig sind, dann darin, dass der Zweifel an den eigenen Fähigkeiten der grösste Leistungskiller ist, egal ob im Spitzen- oder Hobbysport. Negative Gedanken und Ablenkungen im Zaum zu halten, ist daher eine entscheidende Fähigkeit, damit Sportler ihr Potenzial ganzheitlich abrufen können.
Abergläubische Tauben
Der Wunsch vieler Menschen, sich einen Glücksfall oder das zuvor unwahrscheinliche Gelingen bei einem schwierigen Rennen im Nachhinein irgendwie erklären zu wollen, führt zwangsläufig dazu, sich mit zuvor beobachteten, besonderen Umständen zu beschäftigen. Und wer sucht, der findet: Ob das nun ein verzehrtes Schinkenbrot, die Rösti oder eben der besondere Knoten auf dem Schuh gewesen ist – nichts ist unmöglich, alles könnte irgendwie Einfluss aufs Geschehen genommen haben. Wichtig ist nur noch, dass der Betroffene sich durch sein Handeln einen Vorteil verspricht. Selbst dann, wenn dessen Ursache-Wirkung-Zusammenhang für Aussenstehende nur bedingt nachvollziehbar ist.
Das Unerklärliche beschäftigt übrigens nicht nur die Menschen. Ein faszinierendes Experiment des US-amerikanischen Verhaltensforschers und Psychologen Frederik Skinner zeigte in den Fünfzigerjahren, dass sich sogar Tauben das vermeintlich Mysteriöse mit einer Art Aberglauben erklären wollen. Skinner beobachtete die Vögel in einer speziellen Box, die mit einem Fütterungsgerät verbunden war: In unregelmässigen Abständen fielen Körner in eine Schale. Für die Tiere, die zuvor bereits an Experimenten teilgenommen hatten, bei denen sie Futter nach einer bestimmten Handlung (etwa Picken auf ein Schild) erhielten, war die Futtergabe völlig unerklärlich, da sie ja nichts dafür «getan» hatten.
Skinner beobachtete nun in verschiedenen Experimenten, dass die Tauben begannen, genau das gleiche Verhalten nachzuahmen, das sie in dem Moment der unerklärlichen Fütterung erhielten. Die eine Taube drehte ihren Körper genau wie zuvor im Kreis, die andere senkte immer wieder den Schnabel in eine Ecke ab, die dritte wippte mit dem Kopf auf und nieder. Skinner erklärte das mit einer Art «abergläubischem Verhalten», indem die Tauben durch die erinnerte Verhaltensweise zu dem unerklärlichen Futter gelangen wollten.
Ritual versus Glücksbringer
Tauben hin oder her, Rituale und ihre «Wirksamkeit» sind stark vom Glauben der Ausführenden abhängig. Was gut nachvollziehbar ist: Wenn ich fest an etwas glaube, dann bringe ich mich in eine entsprechend positive Stimmung und bin auf das Folgende optimal eingestellt. Rituale haben einen relativ grossen Einfluss auf das Geschehen, weil sie von den Sportlern selbst ausgeführt werden. Was den grossen Unterschied zum Glücksbringer ausmacht: Der kann zwar die gleiche Wirkung haben – aber was ist, wenn man ihn vergessen oder verloren hat?
Dennoch wurde auch mit Glücksbringern bereits mehrfach geforscht. Ein typisches Beispiel: Alle Probanden, die zu einer «Prüfung» eingeladen wurden, mussten ihren Glücksbringer mitbringen. Kurz bevor die Testbögen ausgeteilt wurden, musste die eine Hälfte der Prüflinge ihren Glücksbringer abgeben. Womit dem Zweifel «Tür und Tor geöffnet» waren. Kaum verwunderlich, dass die Teilnehmer ohne Glücksbringer deutlich schlechter abschnitten als ihre «glücklichen» Konkurrenten. Umgekehrt verhält es sich mit typischen «Pechbringern». Im Sport wird deshalb die Startnummer 13 gerne «auf den Kopf gedreht» getragen.
Das Ritual, keins zu haben
Nichts von alldem hielt der ehemalige Skistar Marcel Hirscher: Auf Rituale angesprochen, sagte er: «Ich habe keine. Mein Ritual ist es, kein Ritual zu haben. Man stelle sich vor, ich hätte einmal keine Zeit, dieses Ritual durchzuführen. Dann würde ich ja gar nicht mehr funktionieren.»