«Ausnahmetalent», «Rising Star», «World Class Potential», «Jahrhunderttalent»: Die medialen Lobeshymnen auf Audrey Werro vermögen kaum Schritt zu halten mit dem Tempo, das die 20-jährige Schweizer Laufhoffnung auf der Rundbahn anschlägt. Ihre «Road to Paris» startete in der Provinz.
Donnerstagabend Ende März. Der Frühling hält auch in Freiburg Einzug. Erst vor einer Woche wurde die frisch sanierte Conica-Rundbahn im Stade Universitaire St-Léonard fertiggestellt. Da die Gemeinde Belfaux nur über eine 30-m-Piste verfügt, weichen die Mitglieder des Club Athlétique de Belfaux regelmässig in die fünf Kilometer entfernte Eishockey- und Universitätsstadt aus.
Um 18 Uhr begrüssen Christiane Berset Nuoffer und ihr Ehemann Julien Nuoffer zwanzig Anwesende der seit 2017 bestehenden Mittelstreckengruppe. Von der Hobbyläuferin, die ein Vereinstraining pro Woche besucht, über den Nachwuchs-Kantonalmeister bis zur amtierenden U20-Weltrekordhalterin und zukünftigen Olympionikin. Ihr Name kennt hier jedes Kind. Und das ist ihre Geschichte.
Die Laufgene der Mutter
Aufgewachsen in Courtepin FR, begeistert sich Audrey Werro schon als kleines Mädchen fürs Laufen. Nicht, weil das Dorf ziemlich genau auf halber Strecke des ältesten Schweizer Volkslaufs «Morat-Fribourg» liegt. Nein, gemäss Überlieferungen ihrer Mutter machte es sich die kleine Audrey zum Spiel, die rund 300 Meter zwischen der örtlichen Migros und ihrem Zuhause mit den Einkaufstüten hin- und her zu düsen. «Kaum hatte ich eine Tasche gepackt, war sie schon wieder da, um die nächste abzuholen», beschreibt Philomène Werro den natürlichen Bewegungsdrang des jungen Wirbelwindes.
Was sie nicht erwähnt: Die Ausdauer hat Audrey vermutlich von ihrer Mutter geerbt, einer gebürtigen Ivorerin, die in ihrer Heimat oft und schnell zur Schule ins nächste Dorf gerannt war, ja mangels Transportmittel rennen musste. Genau wie ihr Ehemann Claude, der ruhende Pol in der sechsköpfigen Familie Werro, hat sie allerdings nie ernsthafte sportliche Ambitionen gehegt. Als Audreys Talent mit neun Jahren vom Primarlehrer entdeckt wird, erklären sich die Eltern gleichwohl bereit, die Tochter nach Belfaux zu chauffieren – zum nächstgelegenen Leichtathletik-Club.
Gemacht für die Mittelstrecken
In der Schülerabteilung des CA Belfaux lernt Audrey nicht nur das Einmaleins der Basisbewegungen Laufen, Springen und Werfen, sondern auch Christiane Berset Nuoffer kennen. Die Primarlehrerin im Teilpensum, mittlerweile auch diplomierte Berufstrainerin, legte und legt viel Wert auf eine leichtathletische Grundausbildung. Selbst dann, als sich Audreys Begabung fürs Laufen immer mehr herauskristallisiert und sie ab der U18-Kategorie in der Mittelstreckengruppe mittrainieren darf.
Zuvor findet der Rohdiamant Spass an lokalen und nationalen Nachwuchswettkämpfen wie dem UBS Kids Cup, dem heutigen Visana Sprint und dem Mille Gruyère. Audrey zählt rasch zu den Besten des Kantons und qualifiziert sich 2014 auf Anhieb für den prestigeträchtigen Schweizer Final über 1000 Meter. Im Appenzellischen Herisau bezahlt die 10-jährige Romande zwar Lehrgeld – als Vierte wird sie nachträglich disqualifiziert, weil sie in der Startkurve zu früh auf die Innenbahn gebogen ist –, doch für ihre Betreuerin Christiane Berset Nuoffer steht schon zum damaligen Zeitpunkt fest: «Dieser Schritt, diese Leichtigkeit – das sieht man nur ganz, ganz selten.»
Maturaprüfungen anstatt EM
Beim Warmup im Stade St-Leonard ragt die 1,82 m grosse Vorzeigeathletin mit den endlos langen Beinen abermals heraus. Drei Einlaufrunden auf dem frisch gemähten Rasen bieten Gelegenheit für einen kurzen Schwatz mit den Vereinskollegen. «Welche Outfits packst du ein fürs Trainingslager? Wie feierst du deinen 20. Geburtstag? Was macht die Schule?»
Tatsächlich absolviert Audrey Werro den ersten Teil ihrer Maturaprüfungen just zur Zeit der Leichtathletik-Europameisterschaften (7. bis 12. Juni), für die sie Forfait gibt, gefolgt von Teil zwei im Sommer 2025. «Die Schule kommt mir mit der Streckung des letzten Jahres auf zwei entgegen», sagt die Gymnasiastin, die in ihrer Freizeit leidenschaftlich bäckt und Kuchen isst. Gerne auch mal ein grosses Stück vor dem Training.
Sieben bis acht Einheiten bringt Audrey Werro in einer «normalen Woche» unter – von Yoga-, Kraft- und Atemübungen über Kurzsprints und 50-minütige Dauerläufe bis hin zu hochintensiven Wiederholungsläufen im Wald oder auf der Bahn. Den Spagat zwischen Schule und Sport schafft die Maturandin dank disziplinierter Selbstorganisation und einer Sonderregelung für Wettkämpfe und Trainingslager.
«Don’t be shy, be a lion»
Am Kollegium Gambach mag Audrey Werro nicht auffallen. Sie gilt als introvertiert, aber nicht scheu; zielstrebig und ehrgeizig, aber nicht verbissen; mit einem Hang zum Perfektionismus und einem Faible für Mathematik.
Wenn sie allerdings – wie im vergangenen Jahr – an den internationalen Meetings in Lausanne, Zürich oder Bellinzona auf die Bahn tritt, um sich mit den besten 800-m-Läuferinnen der Welt zu messen, dann legt sie jegliche Zurückhaltung ab. Dann verwandelt sich sie sich in eine Raubkatze, die fest entschlossen ist, ihr Revier zu verteidigen.
«Don’t be shy, be a lion», lautet ihr Motto während der 1:58,13 Minuten, die sie letzten September für die zwei Stadionrunden benötigte. Zum einen unterbot sie damit vorzeitig die Olympialimite für Paris 2024 (1:59,30). Zum anderen näherte sich die zweifache U20-Europameisterin bis auf wenige Hundertstel dem Landesrekord, gehalten von der inzwischen zurückgetretenen Hallen-Europameisterin Selina Rutz-Büchel (1:57,95).
Im eigenen «Rudel» hingegen gibt sich die «Löwin» handzahm. Zwischen koordinativ anspruchsvollen Lauftechnik-, Sprung- und Schwungübungen, angelehnt an die äthiopischen «Drills», reiht sich ein lockeres Spässchen ans andere. «Audrey fühlt sich sehr wohl in der Gruppe und trägt viel zum sozialen Kitt bei», schwärmt Clubpräsidentin Solange Berset.
Die Mutter von Christiane und Alt Bundesrat Alain Berset – einst selbst ein talentierter 800-m-Läufer – ist extra ins Uni-Stadion gekommen, um neben der Indoor-WM-Halbfinalistin weitere Zugpferde für ihre Leistungen im vergangenen Winter zu würdigen, etwa Enkelin Chloé (18), ihres Zeichens U20-SM-Bronzemedaillengewinner im Fünfkampf. Man merkt: Der CAB ist ein grosses Familiennest. Und das entspricht ganz dem Wesen von Familienmensch Audrey.
Bewunderung der Copains
Die «Rudelführerin» hat sich die Spikes ihres Ausrüsters Puma geschnürt, ehe sie sich mit ihren Altersgenossen auf Tempojagd begibt. «Speedwork» steht heute auf dem «Menüplan». Auf die Plätze, fertig – et c’est parti! Die Jungs, darunter Berset Nuoffers Söhne Florian (20) und Loïc (22), scheinen die berühmte Copine auf den ersten Metern stehen zu lassen. Flugs richtet sie sich auf. Hebt den Kopf, die Brust, die Hüfte, die Knie. Ihr Schritt wird länger und länger. Scheinbar mühelos schwebt sie über die blaue Bahn, zieht an allen vorbei und muss sich nicht einmal nach vorne beugen, um als Erste über die Ziellinie zu fliegen.
Am liebsten zuvorderst
«Das ist unsere Audrey», sagt Valentin Egger (23) mit einem Augenzwinkern: «Sie mag es nicht so, wenn jemand vor ihr läuft.» Der Student mit einer persönlichen 800-m-Bestzeit von knapp unter zwei Minuten gehört seit fünf Jahren zu den Sparringpartnern der Überfliegerin. Er hat ihre Entwicklung vom kleinen Mädchen zur «hungrigen Wildkatze» hautnah miterlebt – und im Direktduell sprichwörtlich manche Wunde geleckt. «Für mich ist es eine Ehre, mit Audrey zu trainieren», gibt er offen zu und fügt an: «Aber man sollte sie lieber nicht reizen.»
Während sich Egger für die Schweizer Meisterschaften zu qualifizieren versucht, erfüllt sich Audrey Werro mit der Olympiateilnahme in Paris einen «Kindheitstraum». Auch wenn die fünf Ringe für die meisten Begleiter unerreichbar bleiben, inspiriert das Aushängeschild die ganze Gruppe. Audrey stelle sich nie in den Mittelpunkt, sagt Teamkollegin Charlotte Donzallaz (24), sie beanspruche trotz ihres Weltklasse-Status nicht mehr Aufmerksamkeit als die anderen, nicht derart talentierten Copains. Im Gegenteil: «Sie ist ein Riesenvorbild für uns, zieht alle mit, die eigenen Ziele zu verfolgen, unabhängig vom individuellen Leistungsniveau», ergänzt die Fünfte der diesjährigen Schweizer Kurzcross-Meisterschaften.
Der Sport, die gemeinsame Passion, ein ähnliches Alter – das verbindet und schweisst die Mittelstreckengruppe des CA Belfaux zusammen. Wie sehr, zeigt sich nach dem Eindunkeln. Das Scheinwerferlicht fällt auf die 120-m-Marke. Auch hier ist Audrey Werro nicht die Schnellste am Start. Auch hier ist sie drauf und dran, ihre Vordermänner mit ihren langen Beinen zu überflügeln. Doch nach halber Distanz bremst sie ab und hält sich den rechten Oberschenkel. Ihre Mitstreiter eilen sofort zur Hilfe. «Ça va?» Was ist passiert?
Bereit für die Olympia-Premiere in Paris
Später, beim Club-Apéro zu Ehren der erfolgreichen Mitglieder auf allen Stufen, gibt Christiane Nuoffer Berset Entwarnung: «Nur eine kleine Muskelverspannung. Audrey kannte dieses Gefühl bislang nicht und konnte es nicht richtig einordnen.»
Durchatmen und Erleichterung. Umgeben von Schwester Carole, Vater Claude, Coach Christiane und den zahlreichen Vereinskolleginnen, huscht Audrey Werro bereits wieder ein Lächeln übers Gesicht. Ihr Saisoneinstieg verzögert sich zwar, doch bis zu ihrem Olympiadebüt am 2. August über 800 m will sich die Löwin wieder in Topform bringen. Bereit für die Jagd. Und die ultimative sportliche Reifeprüfung.
Umsichtige und langfristige Karriereplanung
Derweil ihre beiden jüngeren Brüder Arnaud (14) und Ryan (18) dem runden Leder nachjagen, haben sich Audrey (20) und die ältere Schwester Carole (22) dem Laufen ohne Ball verschrieben. Vor fünf Jahren und beim vierten Anlauf schlägt Audrey Werro erstmals die gesamte gleichaltrige Konkurrenz beim landesweiten «Mille Gruyère». 2021 geht in der estnischen Hauptstadt Tallinn auch ihr internationaler Stern auf. Mit 17 Jahren die Jüngste im 800-m-Final, setzt sie sich nach einer Runde keck an die Spitze und kürt sich in souveräner Manier zur U20-Europameistermeisterin. Kurz darauf schnappt sie sich hinter der Walliser Olympiastarterin Lore Hoffmann SM-Silber bei den «Grossen». Trotz der allmählichen Spezialisierung stellt Audrey Werro Ende Saison einen Schweizer U18-Rekord im Fünfkampf auf. Ihre Leistungen lassen im 100-m-Sprint (12,32), Hoch- (1,68 m) und Weitsprung (5,46 m) gleichermassen aufhorchen.
Von den 400 m (U18) bis zu den 1000 m (U23) hält die Ausnahmeläuferin unterdessen nicht weniger als 17 nationale Rekorde (indoor und outdoor). Mit 2:34,89 Minuten in Nizza brach sie vor einem Jahr gar den U20-Weltrekord. «Ein Weltrekord ist schon etwas Spezielles, zumal es nicht alle Tage passiert», blickt Audrey Werro auf ihren historischen «Coup» zurück.
«Normalerweise schielen wir nicht auf Rekorde», räumt Christiane Berset Nuoffer ein, wohlwissend, dass schon mancher junge Stern am Laufhimmel verglüht ist, bevor er überhaupt zum Strahlen kam. Als die Heimtrainerin via Verbandstrainer von den Meetingverantwortlichen kontaktiert wurde, zögerte sie erst einen Moment. Doch schliesslich sagte sie sich: Warum nicht? Audrey war zu diesem Zeitpunkt bereits nationale Meisterin, Fünfte der kontinentalen Hallentitelkämpfe und globale U20-Silbermedaillengewinnern. Und das alles, ohne ihr vom Verband attestiertes «World Class Potential» vollends auszuschöpfen.
«Wir haben die Intensitäten Schritt für Schritt gesteigert und jedes Mal gestaunt, wie rasch Audrey auf neue Reize reagiert», betont Mentorin Berset Nuoffer. Während sich ihr Mann um die steigenden Medien- und Sponsorenanfragen kümmert, kann die Swiss-Olympic-Diplomtrainerin im sportlichen Bereich auf die Expertise von Mittelstrecken-Nationaltrainer Louis Heyer zählen. Dieser bestätigt: «Audreys Umfeld geht äusserst behutsam vor. Durch den altersgerechten Aufbau weist ihr Körper deutlich mehr Marge auf als bei anderen Spitzenläuferinnen auf demselben Niveau üblich.» Und wo sieht er am meisten Reserven? «Eigentlich überall.»
Geht es nach Christiane Berset Nuoffer, dürfte ihr Protegé den Leistungszenit nicht diesen August in Paris, sondern erst 2028 in Los Angeles oder womöglich noch später erreichen. Bis dahin bleibe genügend Zeit, physisch und psychisch zu reifen und vor allem auch taktisch – Audreys Schwachstelle – dazuzulernen. «Wir wollen und müssen nichts überstürzen», bekräftigt die frühere Mittelstrecklerin und NLA-Volleyballerin die langfristige Ausrichtung. Unterstützt und gefördert vom nationalen Verband Swiss Athletics, soll das eingespielte Gespann gemeinsam wachsen und sich weiterentwickeln.
Persönliche Bestleistungen/Rekorde von Audrey Werro
400 m: 52,69 (U20-NR) / 53,03 (U20-NR indoor)
600 m: 1:25,12 (NR) / 1:26,14 (NR indoor)
800 m: 1:58,13 (U20-/U23-NR) / 2:00,16 (U23-NR indoor)
1000 m: 2:34,89 (U20-Weltrekord)
Fünfkampf: 4105 Punkte (U18-NR)
Nationale Erfolge: Schweizer Hallen-Meisterin 2024; Schweizer Meisterin indoor und outdoor 2023; Schweizer U20-Meisterin 2023 (400 m); Schweizer Meisterin indoor und outddor 2023; SM-Zweite 2021; Hallen-SM-Fünfte 2021; Schweizer U18-Meisterin 2020; Schweizer U16-Meisterin 2019 und 2018 (600 m); Siegerin Mille Gruyère 2019 (1000 m)
Internationale Erfolge: U20-Europameisterin in Jerusalem 2023; U20-WM-Zweite in Cali 2022; U20-Europameisterin in Tallinn 2021; Team-EM-Disziplinsiegerin in Silesia 2023; Hallen-EM-Fünfte in Istanbul 2023 (Final); Hallen-WM-Zehnte in Glasgow 2024 (Halbfinal); WM-34. in Budapest 2023 (Vorlauf); EM-28. in München 2022 (Vorlauf)
Bisherige Auszeichnungen: «Swiss Athletics Youngster of the Year» 2023 und 2022; Nomination als «European Athletics Rising Star» 2023; Nomination als «SRF Best Talent Sport» 2022; Nachwuchsportpreis der Stiftung Schweizer Sporthilfe 2022